Botschaft zur Änderung des Strafgesetzbuches (Reform der lebenslangen Freiheitsstrafe)
Botschaft zur Änderung des Strafgesetzbuches (Reform der lebenslangen Freiheitsstrafe)
vom 19. Februar 2025
Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren
Mit dieser Botschaft unterbreiten wir Ihnen, mit dem Antrag auf Zustimmung, den Entwurf einer Änderung des Strafgesetzbuches (Reform der lebenslangen Freiheitsstrafe) ¹ .
Gleichzeitig beantragen wir Ihnen, den folgenden parlamentarischen Vorstoss abzuschreiben:
| 2021 | M | 20.4465 | Reform der lebenslangen Freiheitsstrafe (S 1.3.2021, Caroni; N 27.9.2021) |
Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.
| 19. Februar 2025 | Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Karin Keller-Sutter Der Bundeskanzler: Viktor Rossi |
Übersicht
Mit dem Entwurf zur Änderung des Strafgesetzbuches (Reform der lebenslangen Freiheitsstrafe) soll die Ausgestaltung der lebenslangen Freiheitsstrafe punktuell angepasst, aber nicht grundlegend geändert werden. Die Änderungen betreffen insbesondere die Anpassung der Dauer des unbedingt zu vollziehenden Strafteils und die Regelung von Vollzugsfragen bei gleichzeitig angeordneter Verwahrung.
Ausgangslage
Der Bundesrat hat am 25. November 2020 den Bericht in Erfüllung der Postulate 18.3530 Caroni und 18.3531 Rickli (Schwander) vorgelegt und darin einen dringenden Handlungsbedarf verneint. Die heutige Ausgestaltung der lebenslangen Freiheitsstrafe bietet in der Praxis nämlich weder Sicherheits- noch Vollzugprobleme. Der Bericht zeigte aber auf, dass Spielraum für gewisse systematische Anpassungen besteht.
Die Motion 20.4465 Caroni (Reform der lebenslangen Freiheitsstrafe) vom 10. Dezember 2020 beauftragt den Bundesrat, diese Anpassungen umzusetzen. Die Vernehmlassung zum Vorentwurf fand vom 2. Juni bis zum 2. Oktober 2023 statt.
Inhalt der Vorlage
Die bedingte Entlassung aus der lebenslangen Freiheitsstrafe wird nach geltendem Recht erstmals nach 15 Jahren geprüft. Der Bundesrat schlägt vor, diesen Zeitpunkt auf 17 Jahre anzuheben. Damit wird der Unterschied zur erstmaligen Prüfung der bedingten Entlassung aus der 20-jährigen Freiheitsstrafe - die gemäss der Zwei-Drittel-Regelung nach 13,3 Jahren erfolgt - mehr als verdoppelt. Dies soll diese beiden Strafen klarer voneinander abheben.
Zudem wird vorgeschlagen, die Regelung zur ausserordentlichen bedingten Entlassung generell aufzuheben, denn sie ist in der Praxis ohne Bedeutung geblieben. Die seltenen Fälle, die zu einer ausserordentlichen bedingten Entlassung führen können, sind gegebenenfalls über andere Bestimmungen wie zum Beispiel die Regelung zur Vollzugsunterbrechung zu lösen.
Weiter soll beim Zusammentreffen von lebenslanger Freiheitsstrafe und Verwahrung das Vollzugsregime klarer geregelt werden. Weil Strafen immer vor der Verwahrung vollzogen werden, kann bei einer lebenslangen Freiheitsstrafe ein Übertritt in die Verwahrung gar nie stattfinden: Die bedingte Entlassung aus der lebenslangen Freiheitsstrafe ist nämlich nur möglich, wenn zu erwarten ist, dass sich die Person in Freiheit bewährt. Liegt eine ungünstige Prognose vor, bleibt die Person im Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe. Das ist unbefriedigend, denn dieser Vollzug ist anders ausgestaltet als derjenige der Verwahrung: Im Strafvollzug steht die Resozialisierung im Zentrum; beim Vollzug der Verwahrung ist die öffentliche Sicherheit besonders zu beachten. Schuldfähige verwahrte Personen haben ihre Strafe voll verbüsst, und der Freiheitsentzug erfolgt allein aus Gründen der Sicherheit Dritter. Aus verfassungsrechtlichen Gründen sollte ihnen deshalb unter Beachtung der notwendigen Sicherheitsvorkehrungen mehr Freiheit zur Gestaltung ihres Alltags eingeräumt werden. Um diesen Aspekten besser Rechnung zu tragen, soll die lebenslange Freiheitsstrafe zunächst nach den Bestimmungen über den Vollzug von Freiheitsstrafen vollzogen werden. Nach 25 Jahren soll es möglich sein, dass die inhaftierte Person in einer besonderen, auf den Verwahrungsvollzug spezialisierten Einrichtung untergebracht werden kann, sofern sie die spezifischen Voraussetzungen erfüllt.
Botschaft
¹ BBl 2025 774
1 Ausgangslage
Die vorliegende Botschaft stützt sich auf den Vorentwurf des Bundesrates vom 2. Juni 2023 zur Änderung des Strafgesetzbuches (Reform der lebenslangen Freiheitsstrafe) und die Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens. Wesentlich ist zudem der Bericht des Bundesrates vom 25. November 2020 in Erfüllung der Postulate 18.3530 Caroni und 18.3531 Rickli (Schwander), Reform der lebenslangen Freiheitsstrafe für besonders schwere Straftaten ² (im Folgenden: Bericht «lebenslange Freiheitsstrafe»).
1.1 Handlungsbedarf und Ziele
Die Motion 20.4465 Caroni (Reform der lebenslangen Freiheitsstrafe) beauftragt den Bundesrat, die nötigen Rechtsanpassungen zu entwerfen, um seine eigenen Vorschläge zur Reform der lebenslangen Freiheitsstrafe umzusetzen, siehe dazu den Bericht «lebenslange Freiheitsstrafe», Ziff. 6.4.
Konkret umfasst dies:
1.
eine spätere erstmalige Prüfung der bedingten Entlassung aus der lebenslangen Freiheitsstrafe;
2.
die Aufhebung der ausserordentlichen bedingten Entlassung;
3.
die Klärung und Vereinfachung des Verhältnisses von lebenslanger Freiheitsstrafe und Verwahrung.
In seiner Stellungnahme vom 17. Februar 2021 zur Motion 20.4465 weist der Bundesrat darauf hin, dass er in seinem Bericht «lebenslange Freiheitsstrafe» einen dringenden Handlungsbedarf verneint. Der Bericht zeigt aber auf, dass in den von der Motion aufgegriffenen Aspekten Spielraum besteht, um das System der lebenslangen Freiheitsstrafe anzupassen.
1.2 Geprüfte Alternativen und gewählte Lösung
1.2.1 Vorschläge in den Postulaten 18.3530 und 18.3531
Der Bundesrat hat die drei Vorschläge, die vom Urheber bzw. der Urheberin der Postulate 18.3530 Caroni und 18.3531 Rickli (Schwander) zur Diskussion gestellt worden sind, nach eingehender Prüfung im Bericht «lebenslange Freiheitsstrafe» abgelehnt. ³
-
Vorschlag 1 lautete: «Das Gesetz räumt dem Gericht die Möglichkeit ein, bei besonders schwerem Verschulden die bedingte Entlassung für einen längeren Zeitraum als die heutigen 10/15 Jahre (z. B. während 25 oder 30 Jahren) auszuschliessen.»
Der Bundesrat hat diesen Vorschlag insbesondere deshalb verworfen, weil die sogenannte «Feststellung der besonderen Schwere der Schuld» nicht ins Schweizerische Strafgesetzbuch (StGB) ⁴ passt. Dies ist eine Konzeption aus dem deutschen Strafrecht, die den spezifischen Rahmenbedingungen zum Mord-Tatbestand in Deutschland geschuldet ist. Eine exakte Begriffsbestimmung der Schuldschwereklausel ist im deutschen Strafrecht nie wirklich gelungen. Die Rechtslage in der Schweiz ist demgegenüber fundamental anders, weil die lebenslange Freiheitsstrafe bei Mord (Art. 112 StGB) keine zwingende Rechtsfolge ist. Es ist in praktischer und rechtstechnischer Hinsicht kaum möglich, diese Klausel für eine lebenslange Freiheitsstrafe im Gesetz ausreichend bestimmt zu konkretisieren, ohne die bereits qualifizierenden Tatbestandsmerkmale des Mordes zu wiederholen. Dies wäre widersinnig und nicht praktikabel. ⁵
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Vorschlag 2 lautete: «Das Gesetz räumt dem Gericht bei besonders schwerem Verschulden die Möglichkeit ein, jegliche bedingte Entlassung auszuschliessen.»
Der Bundesrat hat diesen Vorschlag aus demselben Grund wie Vorschlag 1 abgelehnt. Der völlige Ausschluss der bedingten Entlassung verletzt zudem die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ⁶ und ist auch nicht verfassungskonform. ⁷
-
Vorschlag 3 lautete: «Das Gesetz räumt dem Gericht die Möglichkeit von deutlich längeren Freiheitsstrafen ein als Alternative zur lebenslangen Freiheitsstrafe (die ja faktisch im Strafmass von der Lebensdauer des Täters abhängt). Bei Rückfallgefahr wären natürlich wie bis anhin die entsprechenden Sicherungsmassnahmen nötig.»
Der Bundesrat hat Vorschlag 3 ebenfalls verworfen. Eine angemessene Bestrafung für schlimmste Verbrechen ist zwar grundsätzlich auch ohne lebenslange Freiheitsstrafe möglich. Würde die lebenslange Freiheitsstrafe durch eine zeitige Freiheitsstrafe ersetzt, könnte eine zusätzliche Sicherungsmassnahme zudem ohne Überschneidungen zur Schuldstrafe angeordnet werden. Das Risiko von Vermischungen und Fehlannahmen würde damit sinken und der Vorwurf des «Etikettenschwindels» jedenfalls entfallen. Rechtlich gesehen könnte dieser Vorschlag also umgesetzt werden und würde bedeuten, dass die lebenslange Freiheitsstrafe abgeschafft würde. Bei der Frage, ob die lebenslange Freiheitsstrafe durch eine zeitlich absolut begrenzte Freiheitsstrafe ersetzt werden soll, deren unbedingter Strafteil über 15 Jahren liegt, ist aber auch die symbolische Bedeutung der lebenslangen Freiheitsstrafe mitzuberücksichtigen. Dies ist letztlich eine kriminalpolitische Frage. ⁸
³ Bericht «lebenslange Freiheitsstrafe», Ziff. 6.1-6.3.
⁴ SR 311.0
⁵ Eingehend dazu Bericht «lebenslange Freiheitsstrafe», Ziff. 6.1.1.
⁶ SR 0.101
⁷ Eingehend dazu Bericht «lebenslange Freiheitsstrafe», Ziff. 6.2.
⁸ Bericht «lebenslange Freiheitsstrafe», Ziff. 6.3. Zur kriminalpolitischen Bedeutung der lebenslangen Freiheitsstrafe siehe ebd., Ziff. 2.2.
1.2.2 Verhältnis von lebenslanger Freiheitsstrafe und Verwahrung vereinfachen
Im Bericht «lebenslange Freiheitsstrafe» hat der Bundesrat die Möglichkeit einer Vereinfachung des Verhältnisses von lebenslanger Freiheitsstrafe und Verwahrung skizziert. ⁹
Bei der Konzipierung des Vorentwurfs wurde dementsprechend in Abweichung vom Grundsatz nach Artikel 57 Absatz 1 StGB eine Art «Einheitssanktion» beim Zusammentreffen von lebenslanger Freiheitsstrafe und Verwahrung geprüft. Wenn diese beiden Sanktionen zusammentreffen, spräche das Gericht nur eine lebenslange Freiheitsstrafe aus und würde im Urteil anordnen, ob die Entlassung nach den Bestimmungen über die Verwahrung (Art. 64 a f. StGB) oder die lebenslange Verwahrung (Art. 64 c StGB) erfolgt.
Es wäre demzufolge unnötig, zusätzlich zur lebenslangen Freiheitsstrafe eine Verwahrung anzuordnen, die infolge der Regelung von Artikel 64 Absatz 2 erster Satz StGB nie vollzogen werden kann. Die lebenslange Freiheitsstrafe würde damit auch die Funktion der Verwahrung übernehmen.
Der Bundesrat sah schliesslich jedoch aus folgenden Gründen davon ab, im Vorentwurf eine solche «Einheitssanktion» vorzuschlagen:
-
Im Vergleich zum geltenden Recht wäre dies nur eine rein kosmetische Änderung. In der Sache würde nichts Neues geregelt.
-
Obwohl die Voraussetzungen der Verwahrung gegeben sind, würde diese nicht mehr als eigenständige Sanktion angeordnet. Sie wäre damit hinter der lebenslangen Freiheitsstrafe versteckt. Das könnte aus psychologischer Sicht problematisch sein.
-
Insbesondere mit der lebenslangen Verwahrung verursacht eine solche neue «Einheitssanktion» rechtstechnische Probleme (v. a. bei Art. 64 c Abs. 3 und 6 StGB). Für die Änderung der lebenslangen Verwahrung in eine stationäre therapeutische Massnahme (Art. 59 ff. StGB) und für die bedingte Entlassung aus der vorangehenden lebenslangen Freiheitsstrafe muss nämlich zunächst die lebenslange Verwahrung aufgehoben werden. Wenn aber gar keine Verwahrung angeordnet worden ist (weil die «Einheitssanktion» deren Zweck abdeckt), kann sie auch nicht aufgehoben werden. Man kann das Zusammentreffen von lebenslanger Freiheitsstrafe und Verwahrung also nicht mittels einfacher Verweise regeln, sondern müsste neue Bestimmungen einfügen und die bestehenden ändern und ergänzen. Eine solche neue «Einheitssanktion» liesse sich also nur mit grossem Aufwand in das Sanktionensystem des StGB einpassen. 1⁰ Weil das Massnahmenrecht schon heute einen hohen Komplexitätsgrad aufweist, würde eine solche neue Regelung in der Praxis jedenfalls zu Rechtsunsicherheit führen - und dies in einem für die Betroffenen sehr invasiven Bereich des Strafrechts. Die Vorteile einer solchen Regelung stehen somit in keinem günstigen Verhältnis zu ihren Nachteilen.
-
Die fragwürdigen Verflechtungen von lebenslanger Freiheitsstrafe und Verwahrung liessen sich auflösen, indem man - wie bereits im Bericht «lebenslange Freiheitsstrafe» gezeigt 1¹ - die lebenslange Freiheitsstrafe durch eine zeitlich absolut befristete Freiheitsstrafe ersetzen würde. Dies aber erscheint politisch nicht opportun.
Der Bundesrat beschränkte sich im Vorentwurf deshalb darauf, die heute bestehenden Unklarheiten beim Vollzug einer lebenslangen Freiheitsstrafe, die mit einer Verwahrung zusammentrifft, zu beseitigen. In der Vernehmlassung ist der Verzicht auf eine «Einheitssanktion» nicht kritisiert worden, weshalb der Bundesrat an diesem Entscheid festhält.
⁹ Bericht «lebenslange Freiheitsstrafe», Ziff. 6.4.2.
1⁰ Zum dualistisch-vikariierenden Sanktionensystem eingehend Bericht «lebenslange Freiheitsstrafe», Ziff. 3.1.
1¹ Bericht «lebenslange Freiheitsstrafe», Ziff. 6.3.2.
1.2.3 Gewählte Lösung
Neben den Vorschlägen in den Postulaten hat der Bundesrat im Bericht auftragsgemäss weitere Möglichkeiten geprüft. ¹2 Diese Möglichkeiten hat die Motion 20.4465 Caroni (Reform der lebenslangen Freiheitsstrafe) direkt übernommen. Es sind dies:
1.
eine spätere erstmalige Prüfung der bedingten Entlassung aus der lebenslangen Freiheitsstrafe;
2.
die Aufhebung der ausserordentlichen bedingten Entlassung;
3.
die Klärung und Vereinfachung des Verhältnisses von lebenslanger Freiheitsstrafe und Verwahrung.
Die Grundzüge der Umsetzung dieser Möglichkeiten werden unter Ziffer 4 dargelegt.
¹2 Bericht «lebenslange Freiheitsstrafe», Ziff. 6.4.
1.3 Verhältnis zur Legislaturplanung und zur Finanzplanung sowie zu Strategien des Bundesrates
Die Vorlage ist weder in der Botschaft vom 24. Januar 2024 zur Legislaturplanung 2023-2027 ¹3 noch im Bundesbeschluss vom 6. Juni 2024 über die Legislaturplanung 2023-2027 ¹4 angekündigt. Sie erfolgt in Erfüllung der Motion 20.4465 Caroni (Reform der lebenslangen Freiheitsstrafe).
Die Vorlage ist im Voranschlag mit integriertem Aufgaben- und Finanzplan (IAFP) nicht enthalten.
¹3 BBl 2024 525
¹4 BBl 2024 1440
1.4 Erledigung parlamentarischer Vorstösse
Mit den vorgeschlagenen Änderungen wird die folgende Motion umgesetzt:
| 2021 | M | 20.4465 | Reform der lebenslangen Freiheitsstrafe (S 1.3.2021, Caroni; N 27.9.2021) |
Der Bundesrat beantragt die Abschreibung dieser Motion.
² Bundesrat legt Bericht über die lebenslange Freiheitsstrafe vor. Abrufbar unter: www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > 25.11.2020 >
Bericht des Bundesrates
.
2 Vernehmlassungsverfahren
Das Vernehmlassungsverfahren zum Vorentwurf über die Änderung des Strafgesetzbuches (Reform der lebenslangen Freiheitsstrafe) dauerte vom 2. Juni bis zum 2. Oktober 2023. Stellung genommen haben alle 26 Kantone, 5 politische Parteien und 16 übrige Organisationen.
Die Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens sind im Bericht vom 19. Februar 2025 ¹5 eingehend dargestellt. Für Einzelheiten wird auf diesen Bericht verwiesen.
2.1 Inhalt der Vernehmlassungsvorlage
Der Vorentwurf umfasste die folgenden Punkte:
-
spätere bedingte Entlassung aus der lebenslangen Freiheitsstrafe;
-
generelle Aufhebung der Regelung zur ausserordentlichen bedingten Entlassung;
-
Regelung des Vollzugsregimes beim Zusammentreffen von lebenslanger Freiheitsstrafe und Verwahrung;
-
sprachliche Anpassung (lebenslang/lebenslänglich).
2.2 Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens
2.2.1 Spätere erstmalige Prüfung der bedingten Entlassung aus der lebenslangen Freiheitsstrafe
12 Kantone (AG, AI, AR, BS, FR, GE, LU, OW, SG, TG, TI, ZG), 3 Parteien (FDP, Mitte, SVP) und 1 Organisation (Straf- und Massnahmenvollzugsgericht Kanton Wallis) begrüssen die spätere erstmalige Prüfung der bedingten Entlassung aus der lebenslangen Freiheitsstrafe oder bringen keine grundlegenden Einwände dagegen vor.
12 Kantone (BL, GL, GR, JU, NE, NW, SH, SO, SZ, UR, VS, ZH), 2 Parteien (Grüne, SP) und 7 Organisationen (Demokratische Jurist*innen Schweiz, humanrights.ch, Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren, Ostschweizer Strafvollzugskonkordat, Schweizerische Staatsanwaltschaftskonferenz, Schweizerischer Anwaltsverband, Universität Genf) sind der Ansicht, dies sei nicht notwendig, weil es keinen Mehrwert bringe, oder sie lehnen den Vorschlag ausdrücklich ab.
Unabhängig davon, ob sie sich für oder gegen die vorgeschlagene Änderung ausgesprochen haben, schlagen 10 Kantone (AG, AR, GL, LU, NW, TG, TI, UR, VS, ZG), 2 Parteien (FDP, SVP) und 3 Organisationen (Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren, Ostschweizer Strafvollzugskonkordat, Schweizerische Staatsanwaltschaftskonferenz) einen späteren Zeitpunkt als 17 Jahre für die erstmalige Prüfung der bedingten Entlassung vor.
2.2.2 Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe beim Zusammentreffen mit einer Verwahrung regeln
18 Kantone (AR, BL, BS, GE, GL, GR, JU, LU, NE, NW, OW, SZ, TG, UR, VD, VS, ZG, ZH), alle 5 teilnehmenden Parteien (FDP, Grüne, Mitte, SP, SVP) und 8 Organisationen (Demokratische Jurist*innen Schweiz, humanrights.ch, Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren, Ostschweizer Strafvollzugskonkordat, Schweizerische Staatsanwaltschaftskonferenz, Schweizerischer Anwaltsverband, Straf- und Massnahmenvollzugsgericht des Kantons Wallis, Universität Genf) begrüssen grundsätzlich die Einführung einer Regelung für den Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe bei gleichzeitig angeordneter Verwahrung.
2 Kantone (BE, TI) sprechen sich gegen eine solche Änderung aus. 1 Organisation (Universität Genf) meint, der Regimewechsel sei nur ein Wechsel der «Etikette».
16 Kantone (AR, BL, BS, GE, GR, NW, OW, SO, SZ, TG, TI, UR, VD, VS, ZG, ZH), 1 Partei (FDP) und 4 Organisationen (Demokratische Jurist*innen Schweiz, Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren, Ostschweizer Strafvollzugskonkordat, Straf- und Massnahmenvollzugsgericht des Kantons Wallis) sehen Unklarheiten, die der Gesetzgeber regeln sollte.
2.2.3 Generelle Aufhebung der ausserordentlichen bedingten Entlassung
7 Kantone (BS, GE, GR, LU, TG, ZG, ZH), 3 Parteien (FDP, Mitte, SVP) und 1 Organisation (Straf- und Massnahmenvollzugsgericht des Kantons Wallis) stimmen dem Vorschlag zu, die ausserordentliche bedingte Entlassung generell aufzuheben.
4 Kantone (NW, SH, UR, VS) und 3 Organisationen (Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren, Ostschweizer Strafvollzugskonkordat, Schweizerische Staatsanwaltschaftskonferenz) sind der Ansicht, dieser Vorschlag sei an sich unnötig.
6 Kantone (AG, AR, BE, NE, SO, SZ), 2 Parteien (Grüne, SP) und 4 Organisationen (Demokratische Jurist*innen Schweiz, humanrights.ch, Schweizerischer Anwaltsverband, Universität Genf,) sprechen sich gegen deren Aufhebung aus.
3 Kantone (JU, SH, TI) fragen sich, ob die Reform der lebenslangen Freiheitsstrafe die richtige Gelegenheit sei, um dieses Instrument generell aufzuheben.
2.2.4 Sprachliche Anpassung
11 Kantone (AR, BE, GL, GR, NW, SO, TG, UR, VS, ZG, ZH), 1 Partei (SP) und 2 Organisationen (Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren, Ostschweizer Strafvollzugskonkordat) begrüssen die terminologische Bereinigung in der deutschen Fassung des StGB, den Begriff «lebenslänglich» mit «lebenslang» zu ersetzen.
2.2.5 Weiteres Anliegen: Arbeitsexternat
10 Kantone (AR, GL, LU, NW, SO, TG, UR, VD, VS, ZH) und 2 übrige Organisationen (KKJPD, OSK) schlagen vor, dass Artikel 77 a Absatz 1 StGB ergänzt werden müsse, um bei einer lebenslangen Freiheitsstrafe über die Frist für ein Arbeitsexternat Klarheit zu schaffen.
2.3 Würdigung der Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens
In Bezug auf die Kernpunkte des Vorentwurfs ist folgendes festzuhalten:
-
Die spätere erstmalige Prüfung der bedingten Entlassung ist kontrovers aufgenommen worden. Die Vernehmlassung hat jedenfalls keine klare Mehrheit pro oder contra zu Tage gefördert. Es scheint darüber hinaus nicht einfach, einen Zeitpunkt für die bedingte Entlassung zu bestimmen, der allen kriminalpolitischen Erwartungen und wissenschaftlichen Anforderungen zu genügen vermag.
-
Die Notwendigkeit der Aufhebung der ausserordentlichen bedingten Entlassung ist in zahlreichen Stellungnahmen in Zweifel gezogen worden. Deren fehlende praktische Bedeutung wurde jedoch nicht bestritten.
-
Die Regelung zum Vollzug einer lebenslangen Freiheitstrafe beim Zusammentreffen mit einer Verwahrung ist ganz überwiegend begrüsst worden, wobei noch Unklarheiten zu beheben sind.
Inwiefern den Eingaben aus der Vernehmlassung im Einzelnen Rechnung getragen worden ist, wird unter Ziff. 4.1 dargelegt.
¹5 www.admin.ch > Bundesrecht > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2023 > EJPD
3 Rechtsvergleich
Das Schweizerische Institut für Rechtsvergleichung (SIR) hat im Jahr 2019 für den Bericht «lebenslange Freiheitsstrafe» das Gutachten «Emprisonnement à perpétuité et mesures privatives de liberté préventives» erstellt. ¹6 Nachfolgend findet sich eine kurze Zusammenfassung der Befunde in diesem Gutachten. ¹7
3.1 Deutschland
Für besonders schwere Verbrechen wird im deutschen Recht teils zwingend, teils fakultativ eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt. Nach Verbüssung von 15 Jahren (was der sonstigen, grundsätzlichen Höchstdauer einer zeitigen Freiheitsstrafe nach dem deutschen StGB entspricht) setzt das Gericht die Vollstreckung des Restes einer lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung aus, wenn die gesetzlich festgelegten Voraussetzungen dafür vorliegen, insbesondere wenn nicht die besondere Schwere der Schuld des Täters oder der Täterin eine weitere Vollstreckung gebietet oder wenn diesem Entscheid nicht das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit entgegensteht.
Es besteht die Möglichkeit, unabhängig von der Schuld des Täters oder der Täterin aufgrund einer Gefährlichkeitsprognose eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, einer Entziehungsanstalt oder in der Sicherungsverwahrung anzuordnen. Dies kann neben oder statt einer Strafe im Urteil angeordnet werden.
3.2 Österreich
Für besonders schwere Verbrechen kann im österreichischen Recht eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt werden. Eine bedingte Entlassung ist auch bei lebenslanger Freiheitsstrafe nach Verbüssung von 15 Jahren grundsätzlich zulässig, und sie kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden.
Neben Freiheitsstrafen kennt das österreichische Recht drei Arten von schuldunabhängigen freiheitsentziehenden Massnahmen, durch die die Allgemeinheit präventiv vor potenziell gefährlichen Tätern und Täterinnen geschützt werden soll.
3.3 Frankreich
Die lebenslange Freiheitsstrafe ist auch im französischen Recht vorgesehen. Die Gerichte verhängen sie in bestimmten Fällen zusammen mit der Anordnung einer Sicherungsphase, während der keine bedingte Entlassung möglich ist. Grundsätzlich werden zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilte Personen frühestens nach 18 Jahren entlassen. Eine Begnadigung durch die Exekutive ist möglich.
Das französische Recht sieht präventive Massnahmen vor, mit denen einer gefährlichen Person zum Schutz der Bevölkerung neben oder statt einer Strafe die Freiheit entzogen werden kann.
3.4 Italien
Im italienischen Recht ist die lebenslange Freiheitsstrafe ebenfalls vorgesehen. Nur Straftäter und Straftäterinnen, die für die Allgemeinheit sehr gefährlich sind und keine Anzeichen von Fortschritten bei der Resozialisierung zeigen, verbüssen die Strafe. Bei einer Form der lebenslangen Freiheitsstrafe («ergastolo ostativo») hängt die Entlassung von der Zusammenarbeit des Straftäters oder der Straftäterin mit den Behörden ab. Verweigert die Person die Zusammenarbeit, darf sie nicht entlassen werden. Der EGMR stellte fest, dass diese Form des Strafvollzugs gegen Artikel 3 EMRK verstösst. ¹8
Mit Sicherungsmassnahmen («misure di sicurezza») soll die Gefahr gebannt werden, die eine Person für die Allgemeinheit darstellt, wenn sie ein Verbrechen oder ein sogenanntes «Quasi-Verbrechen» begangen hat. Die Massnahmen können vor, nach, während oder auch anstelle einer Freiheitsstrafe vollzogen werden.
¹8 Urteil der Grossen Kammer des EGMR vom 13. Juni 2019, Beschwerde Nr. 77633/16 (Viola gegen Italien).
3.5 Niederlande
Obwohl die lebenslange Freiheitsstrafe in den Niederlanden auch lebenslang zu verbüssen ist, wurden im Jahr 2016 Gesetzesänderungen vorgeschlagen, um einer Reihe von Urteilen des EGMR Rechnung zu tragen. Dieser stufte es als Verletzung von Artikel 3 EMRK ein, dass keine Möglichkeit zur Überprüfung und keine Aussicht auf Entlassung besteht. Obwohl die neuen Gesetzesbestimmungen keine bedingte Entlassung für lebenslang inhaftierte Personen vorsehen, umfassen sie Resozialisierungsaktivitäten einschliesslich Freigänge und die Möglichkeit der Entlassung durch Begnadigung.
Das Strafgesetzbuch sieht Massnahmen vor, mittels derer Straftäter und Straftäterinnen zum Schutz der Öffentlichkeit inhaftiert werden können.
3.6 England und Wales
Auch im englischen und walisischen Recht gibt es die lebenslange Freiheitsstrafe. Im Urteilszeitpunkt muss das Gericht die Mindestdauer festlegen, die der Täter oder die Täterin im Gefängnis verbüssen muss, bevor er oder sie ein Gesuch auf vorzeitige bedingte Entlassung stellen darf. Der Täter oder die Täterin darf nur dann entlassen werden, wenn keine lebenslange Freiheitsstrafe unter Ausschluss der Möglichkeit der Entlassung ausgesprochen worden ist, und wenn davon auszugehen ist, dass er oder sie keine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellt. Eine Entlassung ist diesfalls nur «on compassionate grounds» vorgesehen. ¹9
Psychisch gestörte Straftäter und Straftäterinnen können vom Secretary of State of Justice für eine Behandlung und für spezielle Kontrollen in eine spezielle Klinik eingewiesen werden.
¹9 Dazu Gutachten des SIR (Fn. 15) und eingehend
Staffler Lukas
, Hoffnung auf Freiheit. Überlegungen zur lebenslangen Freiheitsstrafe und ihrer menschenrechtlichen Grenze, Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht (ZStrR) 2022, S. 428 ff., 443 ff.
¹6 Gutachten SIR, E-Avis ISDC 2020-01. Abrufbar unter: www.isdc.ch > Publications > E-AVIS >
Emprisonnement à perpétuité et mesures privatives de liberté préventives
.
¹7 Dazu auch Bericht «lebenslange Freiheitsstrafe», Ziff. 5.
4 Grundzüge der Vorlage
4.1 Die vorgeschlagene Neuregelung
4.1.1 Spätere erstmalige Prüfung der bedingten Entlassung aus der lebenslangen Freiheitsstrafe
(a) Allgemeines zur bedingten Entlassung
Die bedingte Entlassung bildet die letzte Stufe im System des progressiven Strafvollzugs. 2⁰ Sie bezweckt die Wiedereingliederung und dient damit letztlich der Sicherheit. Der bedingt entlassenen Person wird eine Probezeit auferlegt, während der Bewährungshilfe und Weisungen angeordnet werden können. Verstösst sie gegen solche Auflagen, kann sie auch in den Strafvollzug rückversetzt werden. 2¹
Bei der Prüfung der bedingten Entlassung ist die Prognose über das zukünftige Verhalten des Täters oder der Täterin zentral. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts 2² sind im Rahmen der Gesamtwürdigung neben dem Vorleben und der Persönlichkeit vor allem die neuere Einstellung zur Tat, der Grad der Reife einer allfälligen Besserung und die nach der Entlassung zu erwartenden Lebensverhältnisse des Täters oder der Täterin zu prüfen. Auch der Art des möglicherweise gefährdeten Rechtsgutes ist Rechnung zu tragen. Hat ein Strafgefangener früher bspw. nur Eigentumsdelikte begangen, so darf ein höheres Risiko übernommen werden als bei einem Gewaltverbrecher, der sich in schwerer Weise an Personen und somit hochwertigen Rechtsgütern (Leib, Leben usw.) vergangen hat. ²3
Der unbedingt zu vollziehende Teil der lebenslangen Freiheitsstrafe ist nach geltendem Recht mit 15 Jahren (Art. 86 Abs. 5 StGB) nicht wesentlich höher als derjenige bei einer Freiheitsstrafe von 20 Jahren, der bei 13,3 Jahren liegt (Art. 86 Abs. 1 StGB): Der Unterschied beträgt hier nur 1,7 Jahre. Der Sprung zwischen den beiden Strafdrohungen wird bei der Regelung zur erstmaligen Prüfung der bedingten Entlassung somit weitgehend eingeebnet. Das steht in einem gewissen Spannungsverhältnis zum Gleichbehandlungsgrundsatz. ²4
Die Anpassung des unbedingt zu vollziehenden Teils der lebenslangen Freiheitsstrafe muss negative Auswirkungen auf die Verwirklichung der Strafzwecke ²5 vermeiden (dazu sogleich Bst. b) und sich harmonisch ins Gesamtgefüge des StGB einfügen (unten Bst. c und d).
(b) Auswirkungen auf die Verwirklichung der Strafzwecke und die Praxis
Die lebenslange Freiheitsstrafe hat eine Ausnahmestellung im schweizerischen Sanktionensystem und lässt sich nur schwer mathematisch, systematisch oder dogmatisch einordnen. Der Vorentwurf Schultz ²6 zur Revision des Allgemeinen Teils des StGB aus dem Jahr 1987 schlug denn auch die Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe vor.
Es ist unklar, wie sich die Verlängerung des unbedingt zu vollziehenden Teils der lebenslangen Freiheitsstrafe generalpräventiv auswirken würde. Man sollte sich davon jedenfalls keine abschreckende Wirkung versprechen. ²7 In der öffentlichen Wahrnehmung kann die Verlängerung dazu führen, dass die Androhung und Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe glaubwürdiger wirken. Die unsachgemässe Vermischung von lebenslanger Freiheitsstrafe und (lebenslanger) Verwahrung ist jedenfalls auch mit einer Verlängerung nicht zu beheben. Eine Verlängerung würde auch nichts daran ändern, dass eine lebenslange Freiheitsstrafe aus verfassungsrechtlichen Gründen nur potenziell lebenslang dauern darf; der Vorwurf des «Etikettenschwindels» würde deshalb so nicht ausgeräumt. ²8
Aus spezialpräventiver Sicht spricht vieles gegen einen lang dauernden Freiheitsentzug. Verschiedene Untersuchungen belegen nämlich die negativen Auswirkungen von langen Freiheitsstrafen. Ein langer Freiheitsentzug erleichtert die Wiedereingliederung jedenfalls nicht. ²9
Das Verhältnis des unbedingt zu vollziehenden Teils der zeitigen Maximalstrafe zu demjenigen der lebenslangen Strafe ist deshalb nicht nur mathematisch (siehe dazu Bst. d unten) zu betrachten, sondern normativ zu relativieren. Folgende Gesichtspunkte sind entsprechend zu berücksichtigen:
-
Das Strafbedürfnis der Allgemeinheit und insbesondere die Wirkung der Strafe auf den Täter oder die Täterin nehmen mit zunehmender Vollzugsdauer ab.
-
Weil sich ein langer Freiheitsentzug negativ auf die Resozialisierung auswirkt, darf dieses sogar gesetzlich verankerte Ziel (Art. 75 Abs. 1 StGB) nicht durch eine übermässige Verlängerung des unbedingt zu vollziehenden Teils der lebenslangen Freiheitsstrafe erschwert oder gar vereitelt werden.
Es ist darauf hinzuweisen, dass bei Personen, die allein zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden sind (d. h. ohne Anordnung einer therapeutischen Massnahme oder einer Verwahrung), bisher keine Rückfälle wegen gleichartigen Delikten zu verzeichnen sind. 3⁰ Die Resozialisierung und damit die Senkung des Rückfallrisikos wird bei solchen Tätern und Täterinnen unter geltendem Recht erreicht. Die Verlängerung des unbedingt zu vollziehenden Teils darf diesbezüglich nicht zu Rückschritten für die Sicherheit der Allgemeinheit führen.
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Es steht hier allein die Verlängerung des unbedingt zu vollziehenden Teils der Schuldstrafe zur Diskussion. Es geht somit nicht darum, damit die Allgemeinheit vor Rückfällen eines besonders gefährlichen Täters oder einer besonders gefährlichen Täterin zu schützen. Um dies zu erreichen, muss das Gericht die Verwahrung prüfen und gegebenenfalls anordnen. Die Dauer der Strafe darf sich nicht am Rückfallrisiko orientieren, sondern muss schuldangemessen sein.
-
Je grösser der unbedingt zu vollziehende Teil der lebenslangen Freiheitsstrafe ist, desto seltener werden Gerichte diese Strafe wohl verhängen. Der Ausnahmecharakter der lebenslangen Freiheitsstrafe würde damit akzentuiert. Es bestünde damit jedoch die Gefahr, dass im Vollzug wieder vermehrt auf das Notventil der Begnadigung (Art. 381 ff. StGB) zurückgegriffen würde. 3¹
(c) Einordnung in das System des StGB
Je länger der unbedingt zu vollziehende Teil der lebenslangen Freiheitsstrafe dauern soll, desto eher ist in der Folge eine Nachjustierung bei anderen Bestimmungen notwendig. Das Verhältnis zu den Strafrahmen der Delikte zum Schutz von höchstpersönlichen Rechtsgütern (Leib und Leben, sexuelle Integrität) wäre gegebenenfalls zu überprüfen und zu justieren. Es wäre insbesondere an sehr schwere Delikte zu denken, die dem Mord am nächsten stehen. 3² Es würde sich aber auch darüber hinaus Anpassungsbedarf ergeben, um zu verhindern, dass die Diskrepanz der Strafrahmen lediglich nach unten (d. h. zu weniger schweren Delikten) verlagert wird.
Diese aufwändigen Anpassungen der Strafrahmen sind nach Ansicht des Bundesrates jedoch zu vermeiden, nachdem das Parlament die Harmonisierung der Strafrahmen im Jahr 2021 nach langer Beratung verabschiedet hat. 3³ Im Sinne einer Gesamtbetrachtung ist deshalb darauf zu achten, dass sich bei Rechtsgutverletzungen von ähnlicher Schwere keine stossenden Abstufungen ergeben.
Eine massive Verlängerung des unbedingt zu vollziehenden Teils der lebenslangen Freiheitsstrafe ist auch deshalb unnötig, weil weder unter Sicherheits- noch unter Vollzugsgesichtspunkten ein solcher Anpassungsbedarf geltend gemacht wird. ³4
Die Verlängerung darf somit kein Ausreisser im System des geltenden StGB darstellen.
(d) Schwierigkeit einer mathematischen Bestimmung
Wie oben (unter Bst. a) dargelegt, beträgt der Unterschied zwischen der erstmaligen Prüfung der bedingten Entlassung aus der 20-jährigen Freiheitsstrafe zu der aus der lebenslangen Freiheitsstrafe 1,7 Jahre. Das Ziel der Verlängerung des unbedingt zu vollziehenden Strafteils ist es, ein angemessenes Verhältnis zur 20-jährigen Freiheitsstrafe zu schaffen.
Um dieses Verhältnis zu bestimmen, dürfen die Strafrahmen aber nicht als Ausgangspunkt herangezogen werden: Während die 20-jährige Freiheitsstrafe absolut determiniert ist, fehlt bei einer lebenslangen Freiheitsstrafe ein klar bestimmbarer Endpunkt: Sie ist in ihrer maximalen Dauer relativ. Die auch nur annähernd bestimmbare Dauer hängt davon ab, welche Lebenserwartung die verurteilte Person im Urteilszeitpunkt hat.
Der markante Anstieg der durchschnittlichen Lebenserwartung in der Schweiz ³5 in den letzten Jahrzehnten hat dazu geführt, dass eine lebenslange Freiheitsstrafe potenziell länger dauert als früher. Die Verlängerung des unbedingt zu vollziehenden Teils der lebenslangen Freiheitsstrafe kann aber kaum mit dieser gestiegenen Lebenserwartung begründet und um diese Differenz erhöht werden. Denn auch auf alle anderen Freiheitsstrafen hat dieser Anstieg einen Einfluss: Die Einbusse an Lebenszeit in Freiheit ist auch bei einer z. B. fünfjährigen Freiheitsstrafe infolge der höheren Lebenserwartung verhältnismässig kleiner geworden. Weil die Strafrahmen generell nicht an die Lebenserwartung angepasst werden, ist die lebenslange Freiheitsstrafe im Vergleich zu den zeitigen Freiheitsstrafen dadurch potenziell strenger geworden. Wollte man den Aspekt «Lebenserwartung» berücksichtigen, müsste man jedenfalls sämtliche Freiheitsstrafen entsprechend anpassen.
Unter der Hypothese, dass die lebenslange Freiheitsstrafe abgeschafft und durch eine lange zeitige Freiheitsstrafe ersetzt würde, ³6 kann man Anhaltspunkte für ein angemessenes Verhältnis gewinnen: Mit Blick auf das geltende Recht, das nach der lebenslangen als schwerste Strafe die Freiheitsstrafe von 20 Jahren vorsieht (Art. 40 Abs. 2 StGB), wird hier von zwei Modellen einer hypothetischen zeitigen maximalen Freiheitsstrafe ausgegangen:
-
Würde diese hypothetische Maximalstrafe 30 Jahre betragen, würde der zwingend zu verbüssende Teil gemäss der 2/3-Regelung (Art. 86 Abs. 1 StGB) 20 Jahre betragen. Nach Ansicht des Bundesrates stünde dies jedoch in einem Missverhältnis zum zwingend zu verbüssenden Teil einer 20-jährigen Freiheitsstrafe von 13,3 Jahren. Zudem scheint ein so langer Freiheitsentzug auch aus spezialpräventiver Sicht eher problematisch. Überdies ist nicht auszuschliessen, dass damit die Begnadigung häufiger angewendet würde, was aus rechtsstaatlicher und kriminalpolitischer Sicht nicht wünschenswert wäre. Schliesslich würde der Ausnahmecharakter der lebenslangen Freiheitsstrafe damit noch stärker betont, was dazu führen könnte, dass die lebenslange Freiheitsstrafe seltener ausgesprochen würde.
-
Wenn die hypothetische Maximalstrafe 25 Jahre dauern würde, würde der unbedingt zu vollziehende Teil gemäss der 2/3-Regelung 16,6 Jahre betragen. Dies entspräche rund einer Verdoppelung des heutigen Sprungs zur 20-jährigen Freiheitsstrafe. Die zuvor geäusserten Bedenken hinsichtlich Resozialisierung, Begnadigung und Gerichtspraxis fallen hier weniger ins Gewicht.
(e) Vorschlag des Bundesrates
Der Bundesrat schlägt in Erwägung der vorstehend dargelegten Kriterien vor, den Zeitpunkt der ersten Prüfung der bedingten Entlassung aus der lebenslangen Freiheitsstrafe in Artikel 86 Absatz 5 E-StGB um zwei Jahre auf 17 Jahre anzuheben. Damit wird der heutige Sprung zur erstmaligen Prüfung aus der 20-jährigen Freiheitsstrafe etwas mehr als verdoppelt. Das erscheint nicht wenig, wenn man bedenkt, dass bei einem Mord nicht zwingend eine lebenslange Freiheitsstrafe auszusprechen ist, sondern auch eine Freiheitsstrafe von zehn bis zwanzig Jahren möglich ist, wobei dann die bedingte Entlassung nach Verbüssung von 2/3 der Freiheitsstrafe (also wesentlich früher) erstmals möglich ist.
In der Vernehmlassung wurde teilweise kritisiert, die vom Bundesrat vorgeschlagene Dauer von 17 Jahren sei willkürlich. ³7 Mit Rücksicht auf die vorstehend dargelegten Gesichtspunkte erscheint diese Kritik nicht nachvollziehbar. Die in der Vernehmlassung unter Hinweis auf die 20-jährige Freiheitsstrafe (Art. 40 Abs. 2 StGB) zuweilen vorgeschlagenen 20 Jahre erscheinen jedenfalls nicht weniger willkürlich, da sie mit dem Vergleich eines absoluten Strafrahmens mit dem unbedingt zu vollziehenden Strafteil bei der lebenslangen Freiheitsstrafe begründet werden: Das lässt sich nur schwer vergleichen. Darüber hinaus bewirkt eine solche drastische Erhöhung Inkonsistenzen mit den anderen Freiheitsstrafen und den Zwecken des StGB. Der Bundesrat hält aus diesen Gründen an seinem Vorschlag fest.
2⁰ Dazu eingehend Bericht «lebenslange Freiheitsstrafe», Ziff. 3.4.
2¹ Art. 87, 93, 94 und 95 StGB.
2² BGE 133 IV 201 E. 2.3; 124 IV 193 E. 3.
²3 BGE 103 Ib 27 E. 1; vgl. dazu auch das Urteil des Bundesgerichts 6B_32/2019 vom 28. Februar 2019 E. 2.2-2.5 zur Ablehnung der bedingten Entlassung eines wegen Mordes zu einer 19-jährigen Freiheitsstrafe verurteilten Täters, der eine Therapie verweigerte und weder Reue noch Einsicht zeigte.
²4 Siehe dazu auch Bericht «lebenslange Freiheitsstrafe», Ziff. 3.4.1 und 6.4.1.
²5 Zu den Strafzwecken siehe Bericht «lebenslange Freiheitsstrafe», Ziff. 2.2.
²6
Schultz Hans
, Bericht und Vorentwurf zur Revision des Allgemeinen Teils und des Dritten Buches «Einführung und Anwendung des Gesetzes» des Schweizerischen Strafgesetzbuches, Bern 1987, S. 77 f.
²7 Dazu Bericht «lebenslange Freiheitsstrafe», Ziff. 2.2.2.
²8 Dazu Bericht «lebenslange Freiheitsstrafe», Ziff. 1.2 und 6.3.1.
²9 Dazu Bericht «lebenslange Freiheitsstrafe», Ziff. 2.2.3.
3⁰ Zur Statistik siehe Bericht «lebenslange Freiheitsstrafe», Ziff. 4.
3¹ Dazu Bericht «lebenslange Freiheitsstrafe», Ziff. 3.6.
3² Vorsätzliche Tötung (Art. 111 StGB), qualifizierter Raub (Art. 140 Ziff. 2, 3 und 4 StGB), qualifizierte Erpressung (Art. 156 Ziff. 3 und 4 StGB), Menschenhandel (Art. 182 StGB), Geiselnahme (Art. 185 StGB), qualifizierte sexuelle Nötigung (Art. 189 Abs. 3 StGB) und qualifizierte Vergewaltigung (Art. 190 Abs. 3 StGB).
3³ Bundesgesetz vom 17. Dezember 2021 über die Harmonisierung der Strafrahmen, BBl 2021 2997 , und Bundesgesetz vom 17. Dezember 2021 über die Anpassung des Nebenstrafrechts an das geänderte Sanktionenrecht, BBl 2021 2996 .
³4 Bericht «lebenslange Freiheitsstrafe», Ziff. 6.4.1 und 6.5.
³5 Statistiken dazu abrufbar unter: www.bfs.admin.ch > Statistiken > Bevölkerung > Geburten und Todesfälle >
Lebenserwartung
.
³6 Dazu Bericht «lebenslange Freiheitsstrafe», Ziff. 6.3.
³7 Siehe Bericht Vernehmlassung, Ziff. 4.1.
4.1.2 Arbeitsexternat
In der Vernehmlassung ist darauf hingewiesen worden, dass im geltenden Recht eine Regelung zum Arbeitsexternat für Täter und Täterinnen mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe fehlt. Der Bundesrat schlägt vor, bei Artikel 77 a Absatz 1 E-StGB eine solche Bestimmung einzufügen.
Bei Personen, die zu einer zeitlich fix bestimmten Freiheitstrafe verurteilt worden sind, wird sowohl bei der ausserordentlichen bedingten Entlassung (Art. 86 Abs. 4 StGB) wie auch beim Arbeitsexternat die Verbüssung der Hälfte der Strafdauer vorausgesetzt. Für Personen mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe soll eine kongruente Regelung gelten: Wendet man wie bei der Berechnung des unbedingt zu vollziehenden Strafteils auch hier eine hypothetische Maximalstrafe von 25 Jahren an, ³8 entspricht die Hälfte 12,5 Jahren, gerundet 13 Jahre. Danach kann ein Täter oder eine Täterin mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe zum Arbeitsexternat zugelassen werden, wenn er oder sie in der Regel 13 Jahre verbüsst hat und die weiteren Voraussetzungen dafür erfüllt (insb., wenn nicht zu erwarten ist, dass er oder sie flieht oder weitere Straftaten begeht).
³8 Siehe dazu bereits oben Ziff. 4.1.1 (d).
4.1.3 Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe beim Zusammentreffen mit einer Verwahrung regeln
(a) Allgemeines
Nicht jeder Täter oder jede Täterin, der oder die einen Mord begangen hat, weist die besondere Gefährlichkeit auf, die für eine Verwahrung erforderlich ist. ³9 Nur wenn die besonderen Voraussetzungen von Artikel 64 Absatz 1 oder 1bis StGB erfüllt sind, darf eine (lebenslange) Verwahrung angeordnet werden. In Mordfällen wie z. B. demjenigen von Rupperswil 4⁰ zeigt der Täter eine Gefährlichkeit, die - zusätzlich zur lebenslangen Freiheitsstrafe - die Prüfung und gegebenenfalls Anordnung der Verwahrung erforderlich macht.
(b) Geltendes Recht
Der Gesetzgeber ging mit Erlass der Regelung von Artikel 64 Absatz 3 StGB davon aus, dass die Verwahrung neben einer lebenslangen Freiheitsstrafe angeordnet werden können soll. Diese besondere Regelung zur bedingten Entlassung aus der vor der Verwahrung zu verbüssenden lebenslangen Freiheitsstrafe wäre sinnlos, wenn die Verwahrung nicht zusätzlich angeordnet werden könnte. Eine Verwahrung kann denn auch nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts 4¹ neben einer lebenslangen Freiheitsstrafe angeordnet werden. Gemäss Artikel 64 Absatz 2 StGB sind diesfalls jedoch nicht die Bestimmungen über die bedingte Entlassung aus der Freiheitsstrafe anwendbar, sondern diejenigen zur bedingten Entlassung aus der Verwahrung gemäss Absatz 3.
Die Anforderungen an die bedingte Entlassung aus dem Vollzug der Freiheitsstrafe bei gleichzeitig angeordneter Verwahrung nach Artikel 64 Absatz 1 StGB sind formell und materiell höher als die Anforderungen an die bedingte Entlassung aus dem Vollzug der Freiheitsstrafe ohne gleichzeitig angeordnete Verwahrung: So fällt die Prüfung in die Zuständigkeit des Gerichts und nicht in diejenige der Vollzugsbehörde, 4² es sind zwingend ein unabhängiges Gutachten und die Anhörung der Fachkommission zur Beurteilung der Gefährlichkeit von Straftätern und Straftäterinnen erforderlich 4³ und es ist eine Mindestprobezeit von zwei Jahren vorgeschrieben. 4⁴ Zudem sind die Voraussetzungen für die Rückversetzung bei der Verwahrung weniger streng als bei einer Freiheitsstrafe allein: Die Rückversetzung ist schon bei der ernsthaften Erwartung eines Rückfalls möglich, nicht erst bei dessen Eintreten. ⁴5 Ausschlaggebend bei der kumulativen Anordnung von lebenslanger Freiheitsstrafe und Verwahrung ist somit die dadurch bewirkte Verschärfung der Entlassungsbedingungen.
Gemäss Artikel 64 Absatz 2 erster Satz StGB geht der Vollzug der Freiheitsstrafe dem Vollzug der Verwahrung voraus. Weil aber bei einem Täter oder einer Täterin, bei dem bzw. der lebenslange Freiheitsstrafe und Verwahrung zusammentreffen, die bedingte Entlassung aus der (vor der Verwahrung zu vollziehenden) Freiheitsstrafe gemäss Artikel 64 Absatz 2 zweiter Satz und Absatz 3 (i. V. m. Art. 64 a ) StGB nach den Vorschriften zur Verwahrung zu prüfen ist, kommt ein solcher Täter oder eine solche Täterin faktisch gar nie in den Verwahrungsvollzug: Entweder wird die Person - nach den Voraussetzungen der bedingten Entlassung aus der Verwahrung - aus dem Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe bedingt in Freiheit entlassen, oder sie bleibt im Vollzug der (lebenslangen) Freiheitsstrafe. Die angeordnete Verwahrung wird somit zumindest rechtlich-formell gar nie vollzogen. Die lebenslange Freiheits- und damit Schuldstrafe mutiert jedoch de lege lata nach 15 Jahren bei fortdauerndem Vollzug gewissermassen zu einer Art Verwahrung, ohne dass die inhaftierte Person jemals in den entsprechenden Vollzug gelangen würde. ⁴6 Dies erscheint fragwürdig.
(c) Entwurf des Bundesrates
Der Vollzug von Freiheitsstrafen unterscheidet sich vom Vollzug der Verwahrung: Während bei den Strafen die Resozialisierung ganz klar im Zentrum steht (Art. 75 StGB), hat bei der Verwahrung die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit eine zentrale Bedeutung (Art. 64 Abs. 4 zweiter Satz i. V. m. 76 Abs. 2 StGB). Aus verfassungsrechtlichen Gründen müssen der verwahrten Person nach Möglichkeit gewisse Freiheiten zur Gestaltung ihres Alltags eingeräumt werden (Art. 74 StGB). Dies gilt umso mehr, als sich immer mehr ältere Personen im Vollzug der Verwahrung befinden. ⁴7
Der besonderen Situation von verwahrten Personen wird im Vollzug zunehmend Rechnung getragen. ⁴8 So führt die Justizvollzugsanstalt Solothurn neu eine Abteilung «Verwahrungsvollzug in Kleingruppen». ⁴9 Personen, die nach dem Verbüssen der Freiheitsstrafe in den Verwahrungsvollzug kommen, sind dort getrennt von den übrigen Insassen untergebracht (sog. Abstandsgebot). Sie verfügen damit auch über gewisse Freiheiten bei der Gestaltung ihres Alltags. Nach geltendem Recht kommt eine Person mit lebenslanger Freiheitsstrafe plus angeordneter Verwahrung für diese Vollzugsform nicht in Frage, weil ihr die Freiheit (potenziell) lebenslang unter dem Titel der lebenslangen Freiheitsstrafe entzogen wird.
Das Vollzugsregime beim Zusammentreffen von lebenslanger Freiheitsstrafe und von Verwahrung soll deshalb im Vergleich zum geltenden Recht klarer geregelt werden: Die lebenslange Freiheitsstrafe wird nach den Bestimmungen über den Vollzug von Freiheitsstrafen vollzogen; die besonderen Bestimmungen zum Strafvollzug, der der Verwahrung vorausgeht, sind anwendbar (so insb. Art. 64 Abs. 2 StGB). Nach Verbüssung eines gewissen Teils der Strafe soll der weitere Freiheitsentzug jedoch punktuell den Bedingungen der Verwahrung angeglichen werden können. Gemäss dem Entwurf soll die inhaftierte Person in einer besonderen, auf den Verwahrungsvollzug spezialisierten Einrichtung (s. Art. 377 Abs. 2 StGB) untergebracht werden können, wenn sie 25 Jahre der lebenslangen Freiheitsstrafe verbüsst hat (Art. 80 a E-StGB).
Die vorgeschlagene Regelung ändert jedoch nichts daran, dass eine Verwahrung nie angetreten werden kann, wenn gleichzeitig eine lebenslange Freiheitstrafe verhängt worden ist. 5⁰ Der Rechtstitel für den Freiheitsentzug ändert somit auch mit der hier vorgeschlagenen Regelung nicht: Der Täter oder die Täterin befindet sich rechtlich weiterhin im Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe.
Es fragt sich, ab welchem Zeitpunkt das Vollzugsregime ändern soll. Wie schon bei der Berechnung des unbedingt zu vollziehenden Strafteils stellt sich das Problem, dass die Strafdauer «lebenslang» relativ ist. Damit fehlt auch hier der Bezugspunkt für eine mathematische Berechnung.
Weil nach einem langen Freiheitsentzug eine Resozialisierung zunehmend schwierig wird, könnte man pragmatisch festlegen, dass nach 20 Jahren im Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe diese nach den Bestimmungen über die Verwahrung (bzw. über die lebenslange Verwahrung) vollzogen werden soll. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass ein solcher Pragmatismus unangebracht ist. Eine solche Regelung wäre nämlich identisch mit dem Fall, dass eine Person zu 20 Jahren Freiheitsstrafe und der (lebenslangen) Verwahrung verurteilt worden ist. Ein Täter oder eine Täterin mit lebenslanger Freiheitsstrafe und (lebenslanger) Verwahrung würde im Vergleich dazu ohne sachlichen Grund gleich behandelt − trotz ungleichem Strafmass. Die zunehmend schwierige Resozialisierung ist kaum eine ausreichende Begründung für die Gleichbehandlung. Zudem würde die kriminalpolitische Bedeutung der lebenslangen Freiheitsstrafe − insbesondere im Vergleich zur 20-jährigen − so implizit relativiert.
Für die Festlegung der angemessenen Dauer kann − wie bereits bei der Ermittlung des unbedingt zu vollziehenden Strafteils und beim Arbeitsexternat 5¹ − eine hypothetische Maximalstrafe von 25 Jahren herangezogen werden. Nach 25 Jahren im Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe soll die gefangene Person in Einrichtungen eingewiesen werden können, die für langzeitverwahrte Personen konzipiert sind.
Die im Vergleich zum Vorentwurf engere und präzisere Fassung des Normtextes und die Einreihung der neuen Norm bei den Regeln zum Vollzug von Freiheitsstrafen soll der Kritik aus der Vernehmlassung Rechnung tragen und die geltend gemachten Unklarheiten beseitigen.
³9 In diese Richtung auch
Stratenwerth Günter / Bommer Felix
, Schweizerisches Strafrecht Allgemeiner Teil I, 5. Auflage, Bern 2024, § 2 N 18. Siehe auch Urteil des Bundesgerichts 6B_257/2018 vom 12. Dezember 2018 E. 7.6.
4⁰ Übersicht zum Fall abrufbar unter: de.wikipedia.org >
Vierfachmord_von_Rupperswil
(Stand: 11.9.2024).
4¹ BGE 142 IV 56 E. 2.4 ff.; bestätigt in den Urteilen des Bundesgerichts 6B_257/2018 und 6B_270/2018 vom 12. Dezember 2018 jeweils E. 7.4.1. Zur Kritik an der Rechtsprechung des Bundesgerichts bzw. am geltenden Recht siehe Bericht «lebenslange Freiheitsstrafe», Ziff. 3.5.2.
4² Art. 64 Abs. 3 zweiter Satz StGB.
4³ Art. 64 b Abs. 2 Bst. b und c StGB.
4⁴ Art. 64 a Abs. 1 zweiter Satz StGB.
⁴5 Art. 64 a Abs. 3 StGB; zur Freiheitsstrafe siehe Art. 89 Abs. 1 StGB.
⁴6 Siehe z. B. Urteil des Bundesgerichts 6B_240/2018 vom 23. November 2018 (Fall Unterseen BE) E. 2.3 f. (Bestätigung der Verweigerung von Vollzugsöffnungen bei einem Mörder nach 17 Jahren im Vollzug einer lebenslangen Freiheitsstrafe). Zum sog. monistischen Einschlag bei der lebenslangen Freiheitsstrafe siehe Bericht «lebenslange Freiheitsstrafe», Ziff. 3.1.3 und 3.5.1.
⁴7 Siehe Bundesamt für Statistik (BFS), Massnahmenvollzug: mittlerer Insassenbestand mit Verwahrung (Art. 64 StGB) nach Geschlecht, Nationalität und Alter. Abrufbar unter: https://www.bfs.admin.ch/asset/de/32809069.
⁴8 Siehe etwa das Merkblatt der Konferenz des Strafvollzugskonkordats der Nordwest- und Innerschweizer Kantone mit Empfehlungen und Erläuterungen betreffend den Vollzug der ordentlichen Verwahrung gemäss Art. 64 StGB vom 22. Oktober 2021 (abrufbar unter www.konkordate.ch). Allgemein dazu BSK StGB-
Heer
Marianne
, in: Niggli/Wiprächtiger (Hrsg.), Basler Kommentar Strafrecht I, 4. Auflage, Basel 2019, Art. 64 N 127 ff.
⁴9 Siehe dazu die Website des Amtes für Justizvollzug des Kantons Solothurn. Abrufbar unter: so.ch > Verwaltung > Departement des Innern > Amt für Justizvollzug > Anstalten >
Justizvollzugsanstalt Solothurn
.
5⁰ Dazu eingehend Ziff. 4.1.3 (b)
5¹ Ziff. 4.1.1 (d) und 4.1.2.
4.1.4 Generelle Aufhebung der ausserordentlichen bedingten Entlassung
Artikel 86 Absatz 5 i. V. m. Absatz 4 StGB erlaubt es, einen Gefangenen oder eine Gefangene im Vollzug einer lebenslangen Freiheitsstrafe ausnahmsweise bereits nach zehn Jahren bedingt zu entlassen, wenn ausserordentliche, in der Person des oder der Gefangenen liegende Umstände dies rechtfertigen.
Zum Anwendungsbereich dieser Regelung führt die Botschaft zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches aus dem Jahr 1998 5² (im Folgenden: «Botschaft 1998») Fälle an, denen kaum eine praktische Bedeutung zukommt, so z. B., wenn sich der Gefangene im Rahmen einer Katastrophenhilfe spontan für einen sehr gefährlichen Einsatz zur Verfügung gestellt hat. 5³ In solchen extrem seltenen Fällen könnte man auch auf die Begnadigung nach Artikel 381 ff. StGB zurückgreifen. Freilich ist zu beachten, dass es bei der Begnadigung keinen Rechtsschutz und keine Rechtsweggarantie gibt: Das Begnadigungsverfahren ist im StGB nur sehr rudimentär geregelt. Die kriminalpolitische Legitimation der ausserordentlichen bedingten Entlassung kann man in diesen Fällen denn auch darin sehen, dass sie den Anwendungsbereich für die rechtsstaatlich problematische Begnadigung einschränkt. 5⁴
Die in der Botschaft 1998 weiter angeführten schweren Krankheitsfälle (irreversibler Krankheitsverlauf und beschränkte Lebenserwartung), die eine bedingte Entlassung legitimieren sollen, sind aus heutiger Sicht nur schwer mit dem eigentlichen Zweck dieser Vollzugsöffnung (Wiedereingliederung) in Einklang zu bringen. Das Entlassen eines oder einer todkranken Gefangenen aus dem Strafvollzug wird primär der Menschlichkeit und nicht der Wiedereingliederung geschuldet sein. In solchen Fällen wäre eher die Anwendung der Regelung zur Vollzugsunterbrechung (Art. 92 StGB) zu erwägen. 5⁵
In der Lehre wird die Regelung in Artikel 86 Absatz 4 StGB kontrovers beurteilt: Einerseits wird postuliert, die «besonderen Umstände» an spezialpräventive Gesichtspunkte zu knüpfen; ⁵6 vereinzelt wird auch die Revision und Ausweitung der Bestimmung vorgeschlagen. ⁵7 Andererseits wird darauf hingewiesen, dass einem zu weitgehenden Strafverzicht «Vergeltungsbedürfnisse» der Öffentlichkeit entgegenstehen könnten. ⁵8
Die Rechtsprechung ist bei der Annahme von besonderen Umständen für die ausserordentliche bedingte Entlassung zurückhaltend. Die Vollzugsbehörde müsse sich von Gründen leiten lassen, die eine Begnadigung rechtfertigten. ⁵9 Einer Untersuchung ist zu entnehmen, dass in Gesuchen um ausserordentliche bedingte Entlassung bisher überwiegend Umstände angeführt wurden, die nicht in der Person des oder der Gefangenen lagen, wie es Artikel 86 Absatz 4 StGB indes voraussetzt. 6⁰ Statistische Untersuchungen zeigen, dass der bedingten Entlassung aus ausserordentlichen Gründen jedenfalls keine grosse praktische Bedeutung zukommt. 6¹
Die Regelung der ausserordentlichen bedingten Entlassung in Artikel 86 Absatz 4 StGB hat somit kaum eine praktische Bedeutung. Die davon erfassten, sehr seltenen Sachverhalte können auch über andere Bestimmungen angemessen gelöst werden. Der Bundesrat schlägt deshalb vor, die Bestimmung zur ausserordentlichen bedingten Entlassung generell - also nicht nur mit Wirkung für die lebenslange Freiheitsstrafe - aufzuheben.
5² Botschaft zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches (Allgemeine Bestimmungen, Einführung und Anwendung des Gesetzes) und des Militärstrafgesetzes sowie zu einem Bundesgesetz über das Jugendstrafrecht vom 21. September 1998, BBl 1999 II 1979 .
5³ Botschaft 1998, S. 2122.
5⁴ In diese Richtung die Ausführungen zu den «ausserordentlichen Umständen» in der Botschaft 1998, S. 2121. Siehe auch Urteil des Bundesgerichts 6B_240/2012 vom 4. Dezember 2013 E. 2.3 und
Trechsel Stefan / Aebersold Peter
, in: Trechsel/Pieth (Hrsg.), Schweizerisches Strafgesetzbuch Praxiskommentar, 4. Auflage, Zürich 2021, Art. 86 N 17. Zur Begnadigung siehe eingehend Bericht «lebenslange Freiheitsstrafe», Ziff. 3.6.
5⁵ Siehe auch
Koller Cornelia
, in: Niggli/Wiprächtiger (Hrsg.), Basler Kommentar Strafrecht I, 4. Auflage, Basel 2019, Art. 86 N 18.
⁵6
Koller
, Basler Kommentar (Fn. 54), Art. 86 N 18 (m. w. H.)
⁵7
Urwyler Christoph
, Die Praxis der bedingten Entlassung aus dem Strafvollzug. Eine empirische Studie zur Anwendung des Art. 86 StGB in den Kantonen Bern, Freiburg, Luzern und Waadt (Diss. Uni Bern 2019), Berlin/Bern 2019, S. 331 ff.
⁵8
Stratenwerth Günter / Bommer Felix
, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil II: Strafen und Massnahmen, 3. Auflage, Bern 2020, § 3 N 95.
⁵9 Urteil des Bundesgerichts 6B_240/2012 vom 4. Dezember 2012 E. 2.3.
6⁰
Urwyler
(Fn. 56), S. 77; siehe auch
Koller
, Basler Kommentar (Fn. 54), Art. 86 N 18.
6¹ Eingehend dazu
Urwyler
(Fn. 56), S. 209, 278 und 331 ff.
4.2 Regelungsverzicht
In der Vernehmlassung ist der Ersatz des Ausdrucks «lebenslänglich» durch «lebenslang» durchwegs begrüsst worden. Weil die Änderung jedoch rechtlich und tatsächlich bedeutungslos ist, kann auch darauf verzichtet werden.
4.3 Abstimmung von Aufgaben und Finanzen
Die Änderung des StGB erfordert keine Abstimmung von Aufgaben und Finanzen.
4.4 Umsetzungsfragen
Für die Organisation der Gerichte, die Rechtsprechung in Strafsachen sowie den Straf- und Massnahmenvollzug sind gemäss Artikel 123 Absatz 2 der Bundesverfassung (BV) 6² die Kantone zuständig, soweit das Gesetz nichts anderes vorsieht. Bei der Änderung des StGB stellen sich keine besonderen Umsetzungsfragen.
6² SR 101
5 Erläuterungen zu einzelnen Artikeln
5.1 Spätere erstmalige Prüfung der bedingten Entlassung aus der lebenslangen Freiheitsstrafe
Art. 64 Abs. 3 erster Satz, Art. 64c Abs. 6 zweiter Satz und Art. 86 Abs. 5 E-StGB
Artikel 86 Absatz 5 E-StGB legt die Dauer des unbedingt zu vollziehenden Teils der lebenslangen Freiheitsstrafe fest. Gemäss den Erwägungen des Bundesrates (dazu eingehend vorne Ziff. 4.1.1) soll diese neu 17 Jahre dauern.
Die Bestimmungen zur bedingten Entlassung aus der ordentlichen Verwahrung (Art. 64 Abs. 3 erster Satz E-StGB) bzw. aus der lebenslangen Verwahrung (Art. 64 c Abs. 6 zweiter Satz E-StGB) müssen an den neuen unbedingt zu vollziehenden Teil der lebenslangen Freiheitsstrafe angepasst werden.
Weil diese Änderung das Vollzugsregime der Strafe betrifft, 6³ ist nach Ansicht des Bundesrates übergangsrechtlich Artikel 388 Absatz 3 StGB anwendbar. 6⁴ Die vorgeschlagene Regelung gälte damit bereits für alle Personen, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens der vorliegenden Änderung 17 Jahre ihrer lebenslangen Freiheitsstrafe noch nicht verbüsst haben.
6³ Klar insb. der französische Wortlaut von Art. 388 Abs. 3 und Art. 75 a Abs. 2 StGB, wo jeweils von «régime» die Rede ist.
6⁴ Dazu auch BGE 133 IV 201
5.2 Arbeitsexternat
Art. 77a Abs. 1 E-StGB
Ein Täter oder eine Täterin mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe kann zum Arbeitsexternat zugelassen werden, wenn er oder sie in der Regel 13 Jahre verbüsst hat und wenn nicht zu erwarten ist, dass er oder sie flieht oder weitere Straftaten begeht.
5.3 Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe beim Zusammentreffen mit einer Verwahrung
Art. 80a E-StGB Vollzug der lebenslänglichen Freiheitsstrafe bei angeordneter Verwahrung
Um der Kritik aus der Vernehmlassung Rechnung zu tragen, ist diese Bestimmung erheblich überarbeitet und in einen anderen Titel des AT StGB verschoben worden.
Ist die gefangene Person zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden und hat das Gericht zusätzlich eine Verwahrung angeordnet, kann sie in einer besonderen, auf den Verwahrungsvollzug spezialisierten Einrichtung im Sinne von Artikel 377 Absatz 2 StGB untergebracht werden, wenn sie eine bestimmte Dauer der lebenslangen Freiheitsstrafe verbüsst hat und die Voraussetzungen erfüllt, die für die Aufnahme in eine solche Institution gelten. Diese spezifischen Voraussetzungen sind im kantonalen Recht bzw. in Erlassen der Strafvollzugskonkordate geregelt. 6⁵ Nach dem Vorschlag des Bundesrates kann die gefangene Person nach 25 Jahren (dazu eingehend vorne Ziff. 4.1.3) in eine solche Einrichtung eingewiesen werden.
Die vorliegende Revision ändert nichts daran, dass eine Verwahrung von Gesetzes wegen nie angetreten werden kann, wenn gleichzeitig eine lebenslange Freiheitstrafe verhängt worden ist. Der Rechtstitel für den Freiheitsentzug bleibt deshalb immer derselbe: Der Täter oder die Täterin befindet sich im Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe. Wird bei einer lebenslangen Freiheitsstrafe zusätzlich eine Verwahrung (Art. 64 Abs. 1 oder 1bis) angeordnet, gelten die besonderen Vorschriften über den Vollzug der Freiheitsstrafe, die einer (ordentlichen oder lebenslänglichen) Verwahrung vorausgehen. Damit klar ist, dass der Vollzug weiterhin unter dem Rechtstitel der lebenslangen Freiheitsstrafe erfolgt, ist die Bestimmung als neuer Artikel 80 a StGB unter dem Gliederungstitel «Vollzug von Freiheitsstrafen» eingereiht.
Diese Änderung betrifft das Vollzugsregime der lebenslangen Freiheitsstrafe, weshalb übergangsrechtlich Artikel 388 Absatz 3 StGB anwendbar ist: Die Änderung ist somit auch auf altrechtlich verurteilte Täter und Täterinnen anwendbar.
6⁵ Siehe dazu etwa Strafvollzugskonkordat Nordwest- und Innerschweiz, 30.8 Merkblatt Haftbedingungen im Verwahrungsvollzug, Art. 3 Abs. 2 (abrufbar unter: www.konkordate.ch >
Konkordatliche Erlasse (SSED)
[Stand: 16.9.2024]).
5.4 Generelle Aufhebung der ausserordentlichen bedingten Entlassung
Art. 86 Abs. 4 E-StGB
Die ausserordentliche bedingte Entlassung nach Artikel 86 Absatz 4 StGB wird aufgehoben. Die davon erfassten, sehr seltenen Sachverhalte können auch über andere Bestimmungen angemessen gelöst werden (dazu eingehend vorne Ziffer 4.1.2).
6 Auswirkungen
6.1 Auswirkungen auf den Bund
Die Vorlage hat Auswirkungen auf den Bund, falls in einem Fall, der unter die Bundesgerichtsbarkeit fällt (Art. 23 f. Strafprozessordnung 6⁶ ), eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt wird. Der Vollzug solcher Freiheitsstrafen obliegt zwar den Kantonen, wird aber vom Bund bezahlt (Art. 372 Abs. 1 StGB). Es ist deshalb mit Mehrkosten zu rechnen, wenn der unbedingte Strafteil zwei Jahre länger dauert. Lebenslange Freiheitsstrafen werden allgemein sehr selten verhängt, ⁶7 und in Fällen der Bundesgerichtsbarkeit sind sie zudem eher theoretisch als praktisch denkbar: Die typischen Fälle hier sind keine Tötungsdelikte. Die möglichen Mehrkosten sind deshalb vernachlässigbar.
6⁶ SR 312
⁶7 Dazu Bericht «lebenslange Freiheitsstrafe», Ziff. 4.
6.2 Auswirkungen auf die Kantone
Gemäss Artikel 123 Absatz 2 BV sind die Kantone zuständig für den Straf- und Massnahmenvollzug.
Weil gemäss Artikel 86 Absatz 5 E-StGB der unbedingte Strafteil zwei Jahre länger dauern soll, ist bei den Kantonen mit entsprechenden Mehrkosten zu rechnen. Diese können nicht genau beziffert werden. Im Hinblick darauf, dass diese Strafe nur selten verhängt wird, dürften die Mehrkosten eher im tiefen Bereich liegen. Indem das neue Recht nach Ansicht des Bundesrates auch auf bereits zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilte und sich dereinst noch im Strafvollzug befindliche Personen anwendbar sein wird, käme es auch in diesen Fällen zu Mehrkosten.
7 Rechtliche Aspekte
7.1 Verfassungsmässigkeit
Nach Artikel 123 Absatz 1 BV ist der Bund zur Gesetzgebung im Bereich des Strafrechts und Strafprozessrechts befugt.
Die Kantone sind für den Straf- und Massnahmenvollzug zuständig, soweit das Gesetz nichts anderes vorsieht (Art. 123 Abs. 2 BV). Der Bund kann in diesem Gebiet Vorschriften erlassen (Art. 123 Abs. 3 BV), übt sich aber in Zurückhaltung.
7.2 Vereinbarkeit mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)
Bei der Verlängerung des unbedingt zu vollziehenden Teils der lebenslangen Freiheitsstrafe sind gewisse Vorgaben der EMRK zu beachten. ⁶8
Im Urteil Vinter u. a. gegen UK befand der EGMR, dass es mit Blick auf den Ermessensspielraum der Staaten im Bereich der Strafrechtspflege und der Strafzumessung nicht seine Aufgabe sei, vorzuschreiben, in welcher Form die bedingte Entlassung geprüft oder wann diese Prüfung stattfinden solle. Das Gericht hielt jedoch fest, dass der Rechtsvergleich und das Völkerrecht die Einrichtung eines Mechanismus nahe legten, gemäss dem eine erste Prüfung nicht später als 25 Jahre nach der Verhängung einer lebenslangen Strafe erfolge und danach weitere periodische Prüfungen durchgeführt würden. ⁶9
In den nachfolgenden Urteilen stützte sich der EGMR stets auf die im Urteil Vinter u. a. gegen UK entwickelten Grundsätze, namentlich hinsichtlich der Gewährleistung einer ersten Prüfung innerhalb von 25 Jahren. Zwar hält er fest, dass die Staaten diesbezüglich über ein gewisses Ermessen verfügten, er scheint diese Frist jedoch als allgemein anwendbaren Massstab zu betrachten. 7⁰
Bei der Ausgestaltung des Haftregimes und der Haftbedingungen haben die Staaten gemäss dem EGMR einen grossen Ermessensspielraum. Die Haft muss allerdings so gestaltet sein, dass die inhaftierte Person die Möglichkeit hat, eines Tages - wenn auch vielleicht erst in ferner Zukunft - entlassen zu werden. Damit diese Möglichkeit als greifbar und echt gelten kann, müssen die Behörden der verurteilten Person tatsächlich die Gelegenheit zur Wiedereingliederung bieten. 7¹
Der Entwurf trägt diesen Vorgaben Rechnung und ist vereinbar mit der EMRK.
⁶8 Diese Frage wurde bereits im Bericht «lebenslange Freiheitsstrafe», Ziff. 6.1.2., eingehend geprüft.
⁶9 Urteil der Grossen Kammer des EGMR vom 9. Juli 2013, Beschwerde Nr. 66069/09, 130/10, 3896/10 (Vinter u. a. gegen UK), § 120; vgl. ebenfalls Urteil des EGMR vom 11. Juli 2014, Beschwerde Nr. 49905/08 (Čačko gegen Slowakei), §§ 77 f.
7⁰ Namentlich Urteil der Grossen Kammer des EGMR vom 17. Januar 2017, Beschwerde Nr. 57592/08 (Hutchinson gegen UK), § 69.
7¹ Urteil des EGMR vom 8. Juli 2014, Beschwerde Nr. 15018/11 und 61199/12 (Harakchiev und Tolumov gegen Bulgarien), §§ 264 f.
Bundesrecht
Botschaft zur Änderung des Strafgesetzbuches (Reform der lebenslangen Freiheitsstrafe)
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