Betriebsbewilligung für das Reservekraftwerk Birr im Winter 2022/23 Kurzbericht der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates
Betriebsbewilligung für das Reservekraftwerk Birr im Winter 2022/23 Kurzbericht der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates
vom 28. Februar 2025
Das Wichtigste in Kürze
Vor dem Hintergrund der Energiekrise beschloss der Bundesrat 2022, am Standort Birr (AG) ein Reservekraftwerk zu bauen und zu betreiben. Diesen Entscheid stützte er auf das Landesversorgungsgesetz (LVG). Dieses sieht vor, dass der Bundesrat im Fall einer unmittelbar drohenden oder bereits bestehenden schweren Mangellage zeitlich begrenzte wirtschaftliche Interventionsmassnahmen ergreifen und mit diesem Ziel Bestimmungen anderer Erlasse vorübergehend für nicht anwendbar erklären kann.
In einem Urteil vom Februar 2024 hielt das Bundesverwaltungsgericht (BVGer) fest, dass die rechtlichen Voraussetzungen für den Betrieb des Reservekraftwerks Birr nicht erfüllt waren. Gemäss seiner Einschätzung vermochte das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) vorliegend nicht aufzuzeigen, auf der Grundlage welcher Annahmen der Bundesrat in Bezug auf die Energieversorgung eine schwere Mangellage angenommen hatte.
Die GPK-N befasste sich aus Sicht der Oberaufsicht eingehend mit der Frage, auf welche Informationsgrundlagen sich die zuständigen Bundesbehörden bei ihrem Entscheid gestützt hatten. Sie gelangte zum Schluss, dass das UVEK und das Bundesamt für Energie (BFE) bei der Erteilung der Betriebsbewilligung für das Kraftwerk Birr im Dezember 2022 zwar über Informationsgrundlagen verfügten, die auf die Gefahr einer schweren Energiemangellage hindeuteten. Sie bedauert jedoch, dass das UVEK diese Informationsgrundlagen in den Anträgen und Beschlüssen zu diesem Kraftwerk kaum erwähnte. Auch im Beschluss des Bundesrates zur Betriebsverordnung finden sich diese Informationen nicht.
Die GPK-N hält dies für problematisch, da sich nicht transparent überprüfen lässt, ob für den Betrieb des Reservekraftwerks zum damaligen Zeitpunkt die Voraussetzungen gemäss dem LVG erfüllt waren. Zudem besteht nach Ansicht der Kommission Unklarheit darüber, ob Ende März 2023, als das UVEK die Einsprachen gegen die Betriebsbewilligung abwies, nachweislich eine schwere Mangellage drohte.
Die Kommission ist sich bewusst, dass die Bundesbehörden damals unter Zeitdruck und vor dem Hintergrund grosser Unsicherheit bezüglich der künftigen Energieversorgung Entscheide treffen mussten. Sie weist jedoch darauf hin, dass das Ergreifen wirtschaftlicher Interventionsmassnahmen auf der Grundlage des LVG einen Entscheid von grosser Tragweite darstellt und es deshalb wichtig ist, die entsprechenden Informationsgrundlagen transparent darzulegen.
Die Kommission begrüsst die Lehren, die das UVEK und das BFE aus diesem Fall bereits gezogen haben. Allgemein ersucht sie den Bundesrat, dafür zu sorgen, dass die Anträge und Beschlüsse zur Bewältigung von Energiemangellagen künftig detaillierte Informationen über die Versorgungslage enthalten.
Die Abklärungen der Kommission ergaben auch, dass es in der Gesetzgebung keine hinreichend klare Definition gibt, anhand welcher bestimmt werden kann, ob eine schwere Energiemangellage vorliegt. Sie fordert den Bundesrat auf, diese Lücke zu schliessen, um eine grössere Rechtssicherheit zu gewährleisten. Zu guter Letzt hält es die Kommission für notwendig, dass der Bundesrat die Schätzungen der wirtschaftlichen Auswirkungen einer allfälligen Strommangellage verfeinert und vervollständigt.
Bericht
1 Einleitung
1.1 Ausgangslage
Der Bundesrat beschloss im August 2022 als Reaktion auf die durch den Ukrainekrieg ausgelöste Energiekrise, Reservekraftwerke zu bauen und zu betreiben, um die Versorgung der Schweiz in einer Mangellage zu gewährleisten. ¹ Ausgehend von diesem Beschluss unterzeichnete das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) Anfang September 2022 einen Vertrag mit dem Unternehmen «GE Gas Power» über den Bau eines Reservekraftwerks in Birr (AG). ² Der Bundesrat verabschiedete am 23. September 2022 die Verordnung über die Bereitstellung dieses Kraftwerks ³ und am 21. Dezember 2022 die Verordnung über den Betrieb des Kraftwerks. ⁴ Auf dieser Grundlage erteilte das UVEK am 22. Dezember 2022 die Betriebsbewilligung für das Reservekraftwerk Birr. ⁵
Die Beschlüsse des Bundesrates und des UVEK stützten sich insbesondere auf die Artikel 32 und 34 des Landesversorgungsgesetzes (LVG). ⁶ Diese sehen vor, dass der Bundesrat im Fall einer unmittelbar drohenden oder bereits bestehenden schweren Mangellage zeitlich begrenzte wirtschaftliche Interventionsmassnahmen ergreifen und zu diesem Zweck Bestimmungen anderer Erlasse (z. B. im Bereich des Umweltschutzes) vorübergehend für nicht anwendbar erklären kann. ⁷
Gegen die Betriebsbewilligung vom Dezember 2022 für das Reservekraftwerk Birr gingen mehrere Einsprachen ein. Das UVEK wies diese ab und bestätigte Ende März 2023 die Betriebsbewilligung. ⁸ Gegen diesen Beschluss erhob eine der einsprechenden Personen Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (BVGer). Dieses kam in seinem Urteil vom Februar 2024 ⁹ zum Schluss, dass das UVEK nicht überzeugend darzulegen vermochte, auf welche Grundlagen sich der Bundesrat stützte, als er beim Erlass der Betriebsverordnung vom Dezember 2022 von der Gefahr einer schweren Mangellage ausging. Das BVGer erachtete die gesetzliche Voraussetzung für den Betrieb des Reservekraftwerks Birr damit als nicht gegeben.
¹ Energie: Bundesrat stärkt für den Winter 2022/23 die Versorgungssicherheit weiter, Medienmitteilung des Bundesrates vom 17.8.2022.
² Energie: Bund unterzeichnet Vertrag für mobiles Reservekraftwerk, Medienmitteilung des UVEK vom 2.9.2022.
³ Verordnung vom 23.9.2022 über die Bereitstellung eines temporären Reservekraftwerks in Birr ( AS 2022 529 , in Kraft vom 24.9.2022 bis zum 31.5.2023); siehe auch: Energie: Bundesrat ermöglicht den Start der Arbeiten für Reservekraftwerk in Birr (AG), Medienmitteilung des Bundesrates vom 23.9.2022. Auf dieser Grundlage verabschiedete das UVEK am 24.9.2022 den Beschluss über den Bau des Kraftwerks.
⁴ Verordnung vom 21.12.2022 über den Betrieb von Reservekraftwerken und Notstromgruppen bei einer unmittelbar drohenden oder bereits bestehenden Mangellage ( AS 2022 834 , in Kraft vom 22.12.2022 bis zum 31.5.2023); siehe auch: Energie: Bundesrat setzt Verordnung über den Betrieb von Reservekraftwerken und Notstromgruppen in Kraft, Medienmitteilung des Bundesrates vom 21.12.2022.
⁵ Verfügung des UVEK vom 22.12.2022 betreffend den Betrieb des temporären Reservekraftwerks Birr ( BBl 2022 3158 ). Die Betriebsbewilligung war befristet bis zum 31.5.2023.
⁶ Bundesgesetz vom 17.6.2016 über die wirtschaftliche Landesversorgung (Landesversorgungsgesetz, LVG; SR 531 ).
⁷ Die Verordnungen über das Reservekraftwerk Birr sahen die Aussetzung gewisser Bestimmungen des Bundesgesetzes vom 22.6.1979 über die Raumplanung (RPG; SR 700 ) und des Bundesgesetzes vom 7.10.1983 über den Umweltschutz (USG; SR 814.01 ) vor.
⁸ Verfügung des UVEK vom 20.3.2023 betreffend den Betrieb des temporären Reservekraftwerks Birr ( nicht öffentlich ). Das Kraftwerk wurde letztlich im Bewilligungszeitraum, welcher am 31.5.2023 endete, nicht betrieben.
⁹ Urteil A-1706/2023 des BVGer vom 19.2.2024; siehe auch: Fehlende Voraussetzungen für Reservekraftwerk, Medienmitteilung des BVGer vom 23.2.2024. Dieses Urteil war letztinstanzlich.
1.2 Arbeiten der GPK-N
Das BVGer stellt in seinem Urteil nicht infrage, dass der Bundesrat grundsätzlich berechtigt ist, bei einer schweren Mangellage gestützt auf das LVG wirtschaftliche Interventionsmassnahmen zu ergreifen, um die Energieversorgung sicherzustellen. Das Urteil wirft aber insbesondere die Frage auf, ob der Bundesrat und das UVEK im konkreten Fall über ausreichende Informationen verfügten, um von der unmittelbaren Gefahr einer schweren Mangellage ausgehen zu können, und ob in den Entscheidungsgrundlagen angemessen auf diese Information verwiesen wurde.
Die Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates (GPK-N) beschloss nach Kenntnisnahme vom Urteil des BVGer, sich aus Sicht der parlamentarischen Oberaufsicht eingehender mit diesem Dossier zu befassen. 1⁰ Für die Kommission stellte sich insbesondere die Frage, welche Lehren aus diesem Fall für den künftigen Umgang mit ähnlichen Situationen gezogen werden können.
Die GPK-N untersuchte insbesondere die Beschlüsse über den Betrieb des Reservekraftwerks Birr im Winter 2022/23. Nicht Gegenstand ihrer Untersuchungen waren die politische Zweckmässigkeit des Baus von Reservekraftwerken vor dem Hintergrund der Energiekrise oder die Frage des künftigen Betriebs des Kraftwerks Birr.
Die Subkommission EDI/UVEK der GPK-N 1¹ hörte im August 2024 den Vorsteher des UVEK ¹2 sowie eine Delegation des Bundesamtes für Energie (BFE), des Bundesamtes für Umwelt (BAFU) und des Bundesamtes für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) an. Sie richtete zudem schriftliche Fragen an das Departement und analysierte verschiedene vom UVEK vorgelegte Dokumente zu den damaligen Beschlüssen.
Im Folgenden legt die Kommission auf der Grundlage der ihr vorliegenden Informationen die ihr wichtig erscheinenden Sachverhaltselemente und ihre Beurteilung dar. Der Berichtsentwurf wurde den betroffenen Behörden zur Konsultation unterbreitet. ¹3 Die Kommission verabschiedete den Bericht an ihrer Sitzung vom 28. Februar 2025 und übermittelte ihn dem Bundesrat. Zudem beschloss sie die Veröffentlichung des Berichts.
1⁰ Diese Abklärungen knüpfen an die Arbeiten der GPK in den Jahren 2022 und 2023 über die Bewältigung der Energiekrise durch die Bundesbehörden an; siehe Jahresbericht der GPK und der GPDel vom 26.1.2024 ( BBl 2024 446 , Kap. 3.4.1).
1¹ Der Subkommission EDI/UVEK der GPK-N gehören die Nationalratsmitglieder Thomas de Courten (Präsident), Alois Huber, Matthias Samuel Jauslin, Andreas Meier, David Roth, Gabriela Suter, Michael Töngi, Bruno Walliser und Priska Wismer-Felder an.
¹2 Bis Ende Dezember 2022 stand die damalige Bundesrätin Simonetta Sommaruga dem UVEK vor. Seit Januar 2023 ist Bundesrat Albert Rösti Vorsteher dieses Departements.
¹3 Im Fokus der Konsultation standen die Prüfung von materiellen oder formellen Fehlern sowie allfällige Publikationsvorbehalte. Die Beurteilung des Sachverhalts durch die GPK-N war hingegen nicht Gegenstand der Konsultation.
2 Präsentation der relevanten Sachverhaltselemente
2.1 Definition einer schweren Energiemangellage im Sinne des LVG
Der Vorsteher des UVEK teilte der GPK-N mit, dass es «kein messbares Kriterium» gibt, um zu bewerten, ob im Energiebereich eine schwere Mangellage im Sinne des LVG unmittelbar droht. Er erklärte, dass sich das UVEK und das BFE im Fall des Reservekraftwerks Birr zum einen auf die Stressszenarien in verschiedenen Studien zur Energieversorgung in Europa und in der Schweiz stützten, gemäss denen eine Mangellage zwar wenig wahrscheinlich schien, aber nicht auszuschliessen war (siehe Kap. 2.2). Zum anderen hätten sie Schätzungen des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz (BABS) berücksichtigt, wonach eine Mangellage einen enormen wirtschaftlichen Schaden zur Folge hätte (siehe Kap. 2.3). Vor diesem Hintergrund sei das UVEK zum Schluss gekommen, dass eine Intervention gemäss Artikel 32 LVG gerechtfertigt ist.
2.2 Informationsgrundlagen des UVEK und des BFE zur Gefahr einer schweren Energiemangellage
2.2.1 Verfügbare Informationsgrundlagen im Dezember 2022
Das UVEK und das BFE teilten der GPK-N mit, dass sie im Dezember 2022 (d. h. zu dem Zeitpunkt, als die Betriebsbewilligung für das Reservekraftwerk erteilt wurde) Hinweise darauf hatten, dass eine schwere Energiemangellage in der Schweiz nicht auszuschliessen ist. Sie nannten hauptsächlich die folgenden Quellen:
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Studie von Swissgrid (Betreiberin des Schweizer Übertragungsnetzes) über die kurzfristigen Perspektiven der Schweizer Stromversorgung, erstellt im Auftrag des BFE, veröffentlicht im November 2022; ¹4
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Studien über die Versorgungsperspektiven in Europa, erstellt von ENTSO-G (Verband europäischer Fernleitungsnetzbetreiber für Gas) und ENTSO-E (Verband europäischer Übertragungsnetzbetreiber für Strom), veröffentlicht zwischen Juli und Dezember 2022; ¹5
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Warnungen der Internationalen Energieagentur (IEA); ¹6
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verschiedene Studien, die als Grundlage für die Grundsatzentscheide über den Bau von Reservekraftwerken dienten; ¹7
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Darüber hinaus verwiesen das UVEK und das BFE auf verschiedene übergeordnete Faktoren im Zusammenhang mit den geopolitischen Entwicklungen im Jahr 2022, welche die Gefahr von Energieversorgungsengpässen in der Schweiz erhöhten (reduzierte Gaslieferungen aufgrund des Ukrainekriegs, begrenzte Verfügbarkeit von französischem Atomstrom, geringe Wasserkraftreserven in der Schweiz am Ende des Sommers). ¹8
Die genannten Studien wurden laut UVEK und BFE gemäss den üblichen Standards erstellt. Die Studienergebnisse und die Versorgungslage wurden regelmässig in den für die Bewältigung der Energiekrise zuständigen Bundesgremien diskutiert, in denen die Verwaltungseinheiten und die relevanten Stakeholder der Stromwirtschaft vertreten waren. ¹9 Laut UVEK bestand unter den Teilnehmenden Einigkeit darüber, dass es angesichts der Risiken einer Mangellage Massnahmen braucht. Die entsprechenden Vorschläge des Bundes seien unbestritten gewesen.
Laut dem Vorsteher des UVEK war die damalige Faktenlage bezüglich der Möglichkeit einer Strommangellage aufgrund der aussergewöhnlichen Kombination der Risikofaktoren und angesichts der Preissignale des Marktes nicht nur in der Schweiz, sondern in ganz Europa erdrückend. Der Direktor des BFE erklärte, dass die Lieferbegrenzungen und die Ergebnisse der damaligen Modellrechnungen «starke Anzeichen dafür» waren, dass es zu einer Mangellage kommen könnte.
¹4 Studie zur kurzfristigen Strom-Adequacy Schweiz im Auftrag des Bundesamtes für Energie - Winter 2022/2023, Bericht von Swissgrid vom 2.11.2022. Laut UVEK und BFE kam diese Studie zum Schluss, dass die Versorgung der Schweiz mit Energie im Winter 2022/23 nicht gravierend gefährdet ist, Engpässe aufgrund gewisser Risikofaktoren jedoch auch nicht völlig ausgeschlossen werden können. Die Wahrscheinlichkeit eines gleichzeitigen Eintretens der Risikoszenarien (namentlich begrenzte Verfügbarkeit von Gas sowie von französischem Atomstrom) wurde als nicht unerheblich bezeichnet.
¹5 Namentlich: «Yearly supply outlook 2022/2023» von ENTSO-G (Juli 2022), «Winter supply outlook 2022/2023» von ENTSO-G (Oktober 2022) und «Winter outlook 2022-2023, Summer 2022 review» von ENTSO-E (Dezember 2022). Laut BFE konnten anhand dieser Studien Risikosimulationen für die Schweiz erstellt werden. Diese Studien hätten insbesondere gezeigt, dass bei einem kompletten Stopp der Gaslieferungen aus Russland und einem kalten Winter die Gasversorgung nicht gewährleistet wäre und ein hohe Gefahr von Engpässen bei der Stromversorgung bestünde.
¹6 Laut BFE warnte die IEA insbesondere zu Beginn des Winters 2022/23 vor möglichen Engpässen, sollten die russischen Gaslieferungen gestoppt werden.
¹7 Namentlich die Elcom-Studie «Stromversorgungssicherheit 2025» vom Oktober 2021 sowie die von der Universität Basel im Auftrag des BFE erstellte Studie vom Dezember 2022 über die Stromversorgungssicherheit bis ins Jahr 2040.
¹8 Laut BFE bestand zudem zu Beginn des Winters grosse Unsicherheit darüber, ob die europäischen Länder in der Lage sein würden, ihre Gasspeicher aufzufüllen.
¹9 Insbesondere die von der Eidgenössischen Elektrizitätskommission (Elcom) präsidierte Arbeitsgruppe «Versorgungssicherheit» und die Krisenorganisation AGATHON des Bundes.
2.2.2 Entwicklung der Informationsgrundlagen im Winter 2022/23
Zwischen der Erteilung der Betriebsbewilligung für das Reservekraftwerk Birr (Dezember 2022) und der definitiven Ablehnung der Einsprachen gegen diese Bewilligung (März 2023) änderten sich die Informationen über die Gefahr von Engpässen laut UVEK und BFE kaum.
Das Departement und das Bundesamt räumten gegenüber der GPK-N ein, dass sich die Lage während des Winters entspannt hatte, namentlich wegen des Aufbaus von Gasreserven durch die europäischen Länder, der milden Temperaturen und des geringeren Verbrauchs. Die kritische Phase war laut UVEK am 20. März 2023, als die Einsprachen abgewiesen wurden, allerdings noch nicht beendet. Angesichts früherer Erfahrungen und der komplexen Faktoren, welche die Versorgungslage bestimmen, war das Departement der Ansicht, dass die Voraussetzungen für Massnahmen wegen einer unmittelbar drohenden Mangellage zu diesem Zeitpunkt nach wie vor gegeben waren. 2⁰ Das BFE teilte der GPK-N in der Anhörung im August 2024 zudem mit, dass die Sorgen in den ersten Monaten des Jahres 2023 hauptsächlich die langfristige Versorgung betrafen. Es wurde befürchtet, dass die Gasspeicher für den Winter 2023/24 nicht ausreichend aufgefüllt werden können, wenn sie nach dem Winter 2022/23 zu gering sind.
In einer Medienmitteilung vom 27. März 2023, also gerade einmal eine Woche nach der Abweisung der Einsprachen, teilte das BFE mit, dass das Reservekraftwerk Birr im Frühjahr 2023 aufgrund der stabilen Versorgungslage voraussichtlich nicht in Betrieb genommen wird. 2¹
2⁰ Diese Argumentation findet sich auch in der Stellungnahme des UVEK zuhanden des BVGer im Rahmen des Beschwerdeverfahrens: Vernehmlassung des UVEK vom 27.4.2023 betreffend Betrieb des temporären Reservekraftwerks Birr ( nicht öffentlich ), Kap. 4.5.
2¹ Energie: Temporäres Reservekraftwerk in Birr steht bereit, Medienmitteilung des BFE vom 27.3.2023.
2.3 Informationen über die wirtschaftlichen Auswirkungen einer Strommangellage
Der Vorsteher des UVEK erklärte gegenüber der GPK-N, dass bei einer Strommangellage Schäden von mehreren Hundert Milliarden Franken für die Schweizer Wirtschaft entstehen könnten. Er stützte sich dabei auf Schätzungen, die das BABS 2020 im Rahmen einer nationalen Risikoanalyse angestellt hatte. 2²
Das BVGer kritisierte in seinem Urteil, dass sich das BFE 2022 nicht ausführlicher zum Ausmass der möglichen wirtschaftlichen Schäden einer Mangellage äusserte. ²3 Der Direktor des BFE erklärte der GPK-N, dass es dem Bundesamt in der dringlichen Lage im Herbst 2022 zeitlich nicht möglich war, diesen Aspekt zu vertiefen.
2² Dossier «Strommangellage» des BABS vom 1.11.2020,
www.babs.admin.ch
> Weitere Aufgabenfelder > Gefährdungen und Risiken > Nationale Risikoanalyse > Gefährdungsdossiers (aufgerufen am 20.11.2024). In seiner Analyse schätzte das BABS die Vermögensschäden und die Kosten für die Bewältigung einer Strommangellage auf rund 10 Milliarden Franken und den Verlust der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit auf ca. 90 Milliarden Franken.
²3 Urteil A-1706/2023 des BVGer vom 19.2.2024, E. 8.3.3.
2.4 Erwähnung der Informationsgrundlagen in den Dokumenten zum Reservekraftwerk Birr
Die GPK-N analysierte die vom UVEK vorgelegten Dokumente betreffend die Betriebsbewilligung für das Reservekraftwerk Birr, um herauszufinden, welche Informationen zum Auftreten einer schweren Mangellage und zu deren wirtschaftlichen Auswirkungen darin aufgeführt waren. Sie machte dabei folgende Feststellungen:
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Die Informationsgrundlagen für das Vorliegen einer unmittelbar drohenden Mangellage im Sinne des LVG sind weder im Antrag des UVEK an den Bundesrat und dessen Beschluss betreffend die Verordnung über den Betrieb von Reservekraftwerken (Dezember 2022) noch in der Betriebsbewilligung des UVEK für das Reservekraftwerk Birr (Dezember 2022) erwähnt.
-
Der Beschluss des UVEK über die Abweisung der Einsprachen gegen die Betriebsbewilligung (März 2023) verweist auf die Swissgrid-Studie vom November 2022 (siehe Kap. 2.2.1). ²4
-
In seiner Stellungnahme zuhanden des BVGer im Rahmen des Beschwerdeverfahrens (April 2023) ²5 verweist das UVEK kurz auf ein Faktenblatt des BFE vom Februar 2023 ²6 und auf die Schätzungen des BABS von 2020 zu den Kosten einer Strommangellage (siehe Kap. 2.3).
Die GPK-N hält allgemein fest, dass das Drohen einer Mangellage in den betreffenden Dokumenten als Tatsache dargestellt wird, ohne dass dies durch wissenschaftliche Erkenntnisse gestützt wird.
Sie konstatiert zudem, dass der Bundesrat in mehreren Medienmitteilungen aus dem Zeitraum August bis Dezember 2022 auf eine mögliche Energiemangellage im Winter 2022/23 hinweist. ²7 In einigen dieser Medienmitteilungen werden zudem geopolitische Faktoren erwähnt. Spezifische Informationsgrundlagen zur Gefahr einer Mangellage werden allerdings keine genannt, mit Ausnahme der Swissgrid-Studie, von welcher der Bundesrat am 2. November 2022 Kenntnis nahm. ²8
²4 Verfügung des UVEK vom 20.3.2023 betreffend den Betrieb des temporären Reservekraftwerks Birr ( nicht öffentlich ), Kap. 6.4.
²5 Vernehmlassung des UVEK vom 27.4.2023 betreffend Betrieb des temporären Reservekraftwerks Birr ( nicht öffentlich ), Kap. 4.2.
²6 Faktenblatt des BFE vom 10.2.2023 zum Reservekraftwerk Birr. In diesem Faktenblatt wird kurz auf die Versorgungslage eingegangen und diese als «angespannt aber stabil» bezeichnet sowie festgehalten, dass die kritische Periode von Februar bis Mai noch bevorsteht und die Entwicklung deshalb weiter aufmerksam zu beobachten ist. Dieses Dokument erwähnte das UVEK gegenüber der GPK-N nicht.
²7 Siehe z. B.: Energie: Bundesrat stärkt für den Winter 2022/23 die Versorgungssicherheit weiter, Medienmitteilung des Bundesrates vom 17.8.2022; Energie: Bundesrat unterstützt freiwilliges Gas-Sparziel, um Engpässe zu vermeiden, Medienmitteilung des Bundesrates vom 24.8.2022; Energie: Massnahmen für eine Gasmangellage gehen in Konsultation, Medienmitteilung des Bundesrates vom 31.8.2022; Energie: Der Bundesrat setzt die Verordnung zur Wasserkraftreserve in Kraft, Medienmitteilung des Bundesrates vom 7.9.2022; Energie: Bundesrat erhöht Kapazitäten im Schweizer Strom-Übertragungsnetz, Medienmitteilung des Bundesrates vom 30.9.2022; Energie: Massnahmen für den Fall einer Strommangellage gehen in Vernehmlassung, Medienmitteilung des Bundesrates vom 23.11.2022.
²8 Energie: Stromversorgungslage im Winter angespannt, aber nicht gravierend gefährdet, Medienmitteilung des Bundesrates vom 2.11.2022.
2.5 Lehren des UVEK und des BFE aus dem BVGer-Urteil
Der Vorsteher des UVEK räumte gegenüber der GPK-N ein, dass das Departement damals zwar über hinreichend Informationen verfügte, um den Beschluss über den Betrieb des Reservekraftwerks Birr zu begründen, diese in der Betriebsbewilligung und in den Stellungnahmen zu den Einsprachen und Beschwerden aber nicht genügend erwähnt wurden. Er teilte mit, dass das UVEK künftig in einer ähnlichen Situation eine detaillierte Begründung für das Vorliegen oder Drohen einer schweren Mangellage in die Betriebsbewilligung für das Reservekraftwerk aufnehmen wird, um die Vorgaben aus dem Urteil des BVGer zu erfüllen. Der Direktor des BFE war zudem der Ansicht, dass das Amt künftig darauf achten muss, die Schlussfolgerungen aus den Simulationen zur Energieversorgung besser zu erläutern.
Das UVEK wies darauf hin, dass das Monitoring der Energieversorgungslage in der Schweiz seit 2022 verbessert worden ist. Das BFE habe namentlich ein Dashboard eingerichtet, das laufend aktualisiert werde und dem Bundesamt detaillierte Informationen über das kurzfristige Energieangebot und die kurzfristige Energienachfrage liefere. ²9 Das Departement teilte mit, dass die Fachstellen des Bundes die Versorgungslage laufend verfolgen, von einschlägigen internationalen Studien Kenntnis nehmen und Kontakte zu ihren europäischen Ansprechpartnern pflegen.
Nach Meinung des UVEK schärfte das Urteil des BVGer die Einsicht, dass das LVG keine geeignete Rechtsgrundlage für langfristig ausgerichtete präventive Massnahmen gegen ausserordentliche Situationen im Bereich der Energieversorgung darstellt. Das Departement hält es für notwendig, eine spezifische Rechtsgrundlage für die Stromreserve zu schaffen, damit diese über eine demokratische Legitimation verfügt. Anfang 2024 leitete der Bundesrat entsprechende Schritte ein und schlug Anpassungen des Stromversorgungsgesetzes (StromVG) 3⁰ und anderer Gesetze vor. 3¹
Zu guter Letzt teilte das BWL mit, dass das Urteil des BVGer bei der laufenden Revision des LVG berücksichtigt wird. Es versicherte zudem, dass der Begründung der Verhältnismässigkeit von Massnahmen zur Bewältigung von Mangellagen künftig besondere Beachtung geschenkt wird.
²9 www.energiedashboard.admin.ch (aufgerufen am 26.11.2024).
3⁰ Bundesgesetz vom 23.3.2007 über die Stromversorgung (StromVG; SR 734.7 ).
3¹ Bundesrat will Stromreserve gesetzlich verankern, Medienmitteilung des Bundesrates vom 1.3.2024. Die Vorlage wird derzeit im Parlament beraten; vgl. Geschäft 24.033: «Stromversorgungsgesetz (Stromreserve). Änderung».
3 Beurteilung durch die GPK-N
3.1 Vorbemerkungen
Die GPK-N legt den Schwerpunkt ihrer Beurteilung auf die vom BVGer aufgeworfene Problematik, nämlich auf die Frage, wie der Bundesrat und das UVEK bei den Beschlüssen über den Betrieb des Reservekraftwerks Birr mit den Informationsgrundlagen zur Gefahr einer schweren Mangellage umgingen und welche Lehren aus diesem Fall für das künftige Management gezogen werden müssen.
Dem besonderen Kontext zu jener Zeit ist bei der Beurteilung des Sachverhalts Rechnung zu tragen. Zu Beginn des Winters 2022/23 mussten die Behörden rasch auf die Energiekrise reagieren, obwohl sehr ungewiss war, wie sich die Versorgungslage entwickeln würde, und die Informationsgrundlagen lückenhaft waren. 3²
Die Kommission weist zudem darauf hin, dass die eidgenössischen Räte derzeit verschiedene Gesetzesvorlagen betreffend das künftige Management der Energieversorgung (namentlich die Revision des StromVG für die Schaffung einer Stromreserve) beraten. Sie nimmt zu diesen Vorlagen nicht Stellung, da diese in die Zuständigkeit der Sachbereichskommissionen fallen. Einige der folgenden Erwägungen könnten sich jedoch auf die künftige Umsetzung auswirken.
3² Die Schweiz verfügte damals beispielsweise über keine präzisen Zahlen zur täglichen Versorgung des Landes mit Strom und Gas.
3.2 Definition einer schweren Energiemangellage
Der Fall des Reservekraftwerks Birr zeigt, dass es in der Gesetzgebung keine hinreichend klare Definition mit messbaren Kriterien gibt, um zu bestimmen, ob eine schwere Energiemangellage vorliegt oder unmittelbar droht. Die GPK-N ist der Auffassung, dass diese Lücke geschlossen werden muss.
Der Beschluss von wirtschaftlichen Interventionsmassnahmen im Sinne der Artikel 32 und 34 LVG, mit denen kurzfristige Mangellagen bewältigt werden sollen, ist ein Entscheid von erheblicher Tragweite, der unter Umständen mit der Aussetzung von Bestimmungen anderer Rechtserlasse einhergeht und gegen den verfassungsmässigen Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit verstösst. Die Kommission ersucht den Bundesrat, im Sinne der Rechtssicherheit dafür zu sorgen, dass präzise indikatorbasierte Kriterien für die Erkennung künftiger Energiemangellagen festgelegt werden. Diese sollten insbesondere der geopolitischen Situation sowie nationalen und internationalen Versorgungsfaktoren Rechnung tragen. Bei Bedarf sind für die einzelnen Energiearten (Strom, Gas usw.) spezifische Kriterien festzulegen.
Die klare Definition einer schweren Energiemangellage wird nach Ansicht der GPK-N der Anwendung der neuen Verordnung über den Betrieb von Reservekraftwerken - die vom August bis zum November 2024 in der Vernehmlassung 3³ war - zuträglich sein. Sie wird auch dann nützlich sein, falls das Parlament dem Vorschlag des Bundesrates folgt, den Grundsatz einer Stromreserve im StromVG zu verankern (siehe Kap. 2.5).
| Empfehlung 1: Definition einer schweren Energiemangellage Der Bundesrat wird ersucht, den Begriff «unmittelbar drohende oder bereits bestehende schwere Mangellage» im Energiebereich in der Gesetzgebung klar zu definieren. Die Definition muss messbare Kriterien enthalten. |
3³ Vernehmlassung zum Betrieb von Reservekraftwerken in einer Strommangellage, Medienmitteilung des Bundesrates vom 21.8.2024. Diese Verordnung wird vom Bundesrat nur im Falle einer schweren Mangellage in Kraft gesetzt.
3.3 Informationsgrundlagen zur Gefahr einer schweren Energiemangellage
Die GPK-N hält fest, dass das UVEK und das BFE verschiedene Informationsgrundlagen anführen konnten, die - nach Einschätzung des Departements und des Bundesamtes - bei der Erteilung der Betriebsbewilligung für das Reservekraftwerk Birr im Dezember 2022 auf die Gefahr einer schweren Mangellage hindeuteten. Es handelte sich insbesondere um eine Swissgrid-Studie über die kurzfristigen Perspektiven für die Stromversorgung in der Schweiz ³4 , Berichte über die Versorgungslage in Europa und Informationen über geopolitische Faktoren (siehe Kap. 2.2.1).
Die Kommission hat keine Anhaltspunkte gefunden, die an der Korrektheit dieser Informationen oder an der Qualität von deren Verarbeitung durch die Facheinheiten des Bundes zweifeln lassen. ³5 Sie ist allerdings der Meinung, dass sich einige der genannten Studien nur bedingt für die Beurteilung der kurzfristigen Gefahr einer Mangellage im Dezember 2022 eignen. ³6
Die Kommission weist jedoch darauf hin, dass die vom UVEK angeführten Informationsgrundlagen vom Bundesrat und vom Departement fast nie in den Anträgen und wichtigsten Beschlüssen zum Betrieb des Reservekraftwerks Birr (Betriebsverordnung, Betriebsverfügung, Beschluss über die Abweisung von Einsprachen, Beschwerdeverfahren vor dem BVGer; siehe Kap. 2.4) erwähnt wurden. ³7 Gewisse der GPK-N im Nachhinein vom UVEK genannte Informationsgrundlagen wie die Studien von ENSTO-G und ENSTO-E sowie die Warnungen der IEA (siehe Kap. 2.2.1) sind in keinem Beschlussdokument aufgeführt. Die Kommission hält fest, dass sich das UVEK in Bezug auf die Gefahr einer schweren Mangellage in der Regel auf allgemeine Aussagen beschränkte. Diese wurde meist als Tatsache präsentiert, ohne jedoch durch Quellen oder wissenschaftliche Daten belegt zu werden.
Die GPK-N bedauert dies sehr. Sie ist der Ansicht, dass das UVEK seine Beschlüsse ausführlicher hätte begründen und die Quellen, die von der unmittelbaren Gefahr einer schweren Mangellage ausgingen, nennen sollen. Wie bereits erwähnt, stellt der Beschluss von wirtschaftlichen Interventionsmassnahmen auf der Grundlage des LVG einen Entscheid von erheblicher Tragweite dar. Im Falle des Reservekraftwerks Birr wurden verschiedene rechtliche - insbesondere umweltschutzrechtliche - Bestimmungen vorübergehend für nicht anwendbar erklärt. Deshalb ist es besonders wichtig, dass die Informationsgrundlagen, auf welche sich solche Massnahmen stützen, klar und transparent präsentiert werden.
Die Kommission ist sich bewusst, dass der Bundesrat im Herbst 2022 sehr wahrscheinlich auch zu anderen Zeitpunkten Informationen über die Gefahr einer Mangellage erhielt. So nahm er beispielsweise Anfang November 2022 Kenntnis von den Ergebnissen der Swissgrid-Studie. Unabhängig davon hält es die GPK-N für unerlässlich, dass in den Anträgen der Departemente an den Bundesrat und in den wichtigsten Beschlüssen des Bundesrates und der Departemente die neusten Erkenntnisse in transparenter und zusammengefasster Form dargestellt werden, insbesondere in Krisenzeiten. Die GPK-N hat in ihrem Bericht vom Juni 2023 über die Nutzung der wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Bewältigung der Coronakrise ³8 bereits eine entsprechende Empfehlung abgegeben. Die Kommission hält fest, dass auch im Falle des Reservekraftwerks Birr Hinweise auf die zugrundeliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse fehlten.
Zudem zieht die GPK-N bezüglich der Ausführungen des UVEK zur Entwicklung der Gefahr einer Mangellage im Winter 2022/23 eine durchzogene Bilanz (siehe Kap. 2.2.2). Sie ist erstaunt darüber, dass das UVEK für den Zeitraum vom Dezember 2022 bis März 2023 keine weitere Informationsgrundlage nennt, obwohl sich die internationale Versorgungslage in diesem Zeitraum offensichtlich verbessert hat. Ausserdem weist sie auf einen Widerspruch hin zwischen den Ausführungen des UVEK, wonach am 20. März 2023 immer noch die unmittelbare Gefahr einer schweren Mangellage bestand, und der Aussage des BFE in einer Medienmitteilung vom 27. März 2023, wonach das Reservekraftwerk Birr wahrscheinlich nicht in Betrieb genommen werden muss. Für die Kommission besteht deshalb weiterhin Unklarheit darüber, ob die kurzfristige Versorgungslage Ende März 2023 die Erteilung einer zweimonatigen Betriebsbewilligung tatsächlich rechtfertigte.
Die GPK-N hält die langfristige Versorgungssicherheit im Energiebereich für wichtig. Daher anerkennt sie das Bestreben des UVEK, für Planungssicherheit zu sorgen, um Mangellagen auf mittlere und lange Sicht vorzubeugen. Sie ist allerdings der Auffassung, dass die Anfang 2023 aufgetretenen Bedenken bezüglich der Energieversorgung in den kommenden Wintern nicht den Anforderungen an eine unmittelbar drohende schwere Mangellage im Sinne des LVG entsprechen. Dementsprechend sind diese als Grundlage für die Erteilung der Betriebsbewilligung im März 2023 aus rechtlicher Sicht gemäss der Auffassung der Kommission nicht genügend.
Die Kommission nimmt erfreut zur Kenntnis, dass das UVEK Lehren aus diesem Fall gezogen hat und sich dafür einsetzen will, dass bei allfälligen künftigen Beschlüssen über den Betrieb von Reservekraftwerken detailliert begründet wird, weshalb eine schwere Mangellage vorliegt oder droht. Die Kommission begrüsst zudem die seit 2022 von den Bundesbehörden unternommenen Anstrengungen zur Verbesserung des Monitorings der Versorgungslage sowie die Bereitschaft des BFE, die Schlussfolgerungen aus den Versorgungssimulationen transparent zu kommunizieren.
Die GPK-N ersucht den Bundesrat, ganz allgemein dafür zu sorgen, dass die Beschlüsse zur Bewältigung von Energiemangellagen künftig immer detaillierte aktuelle Informationen über die Versorgungslage und die - je nach Fall - kurz-, mittel- und/oder langfristigen Versorgungsrisiken in der Schweiz enthalten.
| Empfehlung 2: Informationsgrundlagen für Beschlüsse der Bundesbehörden zur Bewältigung von Energiemangellagen Der Bundesrat wird ersucht, dafür zu sorgen, dass die Beschlüsse zur Bewältigung von Energiemangellagen - insbesondere über den Betrieb von Reservekraftwerken - immer detaillierte aktuelle Informationen über die Versorgungslage und die Versorgungsrisiken in der Schweiz enthalten. |
³4 In den Augen der GPK-N waren einige andere vom UVEK angeführte Studien über die mittel- und langfristige Versorgung der Schweiz für die Einschätzung der Gefahr einer kurzfristigen Mangellage im Dezember 2022 weniger relevant.
³5 Die GPK-N hat weder die Schlussfolgerungen der Studien noch die konkrete Wahrscheinlichkeit einer Mangellage im Dezember 2022 aus fachlicher Sicht analysiert, da diese Fragen ausserhalb ihrer Zuständigkeit liegen.
³6 Dies gilt insbesondere für die Studien vom Oktober 2021 und vom Dezember 2022 über die mittel- und langfristige Energieversorgung der Schweiz.
³7 Die einzige nennenswerte Ausnahme ist in den Augen der GPK-N der Beschluss über die Abweisung der Einsprachen gegen die Betriebsbewilligung vom 20. März 2023, in welchem die Swissgrid-Studie vom November 2022 erwähnt wird.
³8 Nutzung der wissenschaftlichen Erkenntnisse durch den Bundesrat und das BAG zur Bewältigung der Coronakrise, Bericht der GPK-N vom 30.6.2023 ( BBl 2023 2014 ), Empfehlung 7, Kap. 2.3.1.
3.4 Informationsgrundlagen zu den wirtschaftlichen Auswirkungen einer Strommangellage
Die GPK-N hält fest, dass sich das UVEK und das BFE in Bezug auf die wirtschaftlichen Auswirkungen einer Strommangellage auf relativ allgemeine Schätzungen - nämlich die Berechnungen des BABS von 2020 - stützten (siehe Kap. 2.3). Für die Kommission ist nachvollziehbar, dass das BFE im Kontext der Energiekrise im Herbst 2022 nicht über die Kapazitäten verfügte, detaillierte Berechnungen zu den potenziellen Schäden der drohenden Strommangellage durchzuführen.
Dennoch hält es die Kommission für wichtig, dass der Bundesrat über möglichst detaillierte Informationen zu den wirtschaftlichen Auswirkungen einer Strommangellage verfügt, um bei einem künftigen Entscheid über wirtschaftliche Interventionsmassnahmen eine fundierte Interessenabwägung vornehmen zu können. Sie ersucht den Bundesrat, dafür zu sorgen, dass die bestehenden Schätzungen verfeinert und vervollständigt sowie auch regelmässig überprüft werden.
In den Augen der GPK-N ist der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die wirtschaftlichen Auswirkungen je nach Ausmass und Dauer der Mangellage sehr unterschiedlich ausfallen können. Wünschenswert wäre auch, die potentiellen wirtschaftlichen Auswirkungen der Rationierungsmassnahmen, die der Bundesrat unlängst für den Fall einer Energiekrise definiert hat (Verwendungsbeschränkungen, Kontingentierungen, Netzabschaltungen usw.), ³9 differenziert zu schätzen.
| Empfehlung 3: Schätzung der wirtschaftlichen Auswirkungen einer Mangellage Der Bundesrat wird ersucht, dafür zu sorgen, dass die Schätzungen der wirtschaftlichen Auswirkungen einer Strommangellage verfeinert und vervollständigt sowie auch regelmässig überprüft werden. |
³9 Energie: Bundesrat passt Massnahmen für den Fall einer Strommangellage an, Medienmitteilung des Bundesrates vom 3.3.2023.
4 Schlussfolgerungen
Die GPK-N kommt auf der Grundlage der ihr vorliegenden Informationen zum Schluss, dass das UVEK und das BFE bei der Erteilung der Betriebsbewilligung für das Reservekraftwerk Birr im Dezember 2022 offensichtlich über Informationen verfügten, die auf die Gefahr einer schweren Energiemangellage hindeuteten. Sie bedauert jedoch, dass die entsprechenden Informationsgrundlagen vom Bundesrat und vom UVEK in den Anträgen und Beschlüssen zu diesem Kraftwerk kaum erwähnt wurden. Die Kommission hält dies für problematisch, da sich nicht transparent überprüfen lässt, ob für den Betrieb des Reservekraftwerks zum damaligen Zeitpunkt die Voraussetzungen gemäss dem LVG erfüllt waren. Zudem besteht nach Ansicht der GPK-N weiterhin Unklarheit darüber, ob Ende März 2023, als das UVEK die Betriebsbewilligung für das Reservekraftwerk definitiv erteilte, nachweislich eine schwere Mangellage drohte.
Die Kommission begrüsst die Lehren, die das UVEK und das BFE bereits aus diesem Fall gezogen haben. Sie ersucht den Bundesrat, dafür zu sorgen, dass die Anträge und Beschlüsse zur Bewältigung von Energiemangellagen künftig immer detaillierte Informationen über die Versorgungslage und die Versorgungsrisiken enthalten. Sie bittet den Bundesrat zudem, den Begriff «schwere Mangellage» im Energiebereich klar zu definieren. Zu guter Letzt hält sie es für notwendig, die Schätzungen der wirtschaftlichen Auswirkungen einer Strommangellage zu verfeinern und zu vervollständigen.
Die GPK-N ersucht den Bundesrat, ihren Erwägungen Rechnung zu tragen und zum vorliegenden Bericht und den darin enthaltenen Empfehlungen bis zum 30. Mai 2025 Stellung zu nehmen.
| 28. Februar 2025 | Im Namen der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates Der Präsident: Erich Hess, Nationalrat Die Sekretärin: Ursina Jud Huwiler Der Präsident der Subkommission EDI/UVEK: Thomas de Courten, Nationalrat Der Sekretär der Subkommission EDI/UVEK: Nicolas Gschwind |
Abkürzungsverzeichnis
Tabelle vergrössern
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| AG | Aargau |
| BABS | Bundesamt für Bevölkerungsschutz |
| BAFU | Bundesamt für Umwelt |
| BBl | Bundesblatt |
| BFE | Bundesamt für Energie |
| BVGer | Bundesverwaltungsgericht |
| BWL | Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung |
| E. | Erwägung |
| Elcom | Eidgenössische Elektrizitätskommission |
| ENSTO-G / ENSTO-E | Verbund der europäischen Fernleitungsnetzbetreiber für Gas / Verbund der europäischen Übertragungsnetzbetreiber für Strom |
| GPK-N | Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates |
| IEA | Internationale Energieagentur |
| Kap. | Kapitel |
| LVG | Bundesgesetz vom 17.6.2016 über die wirtschaftliche Landesversorgung (Landesversorgungsgesetz; SR 531 ) |
| RPG | Bundesgesetz vom 22.6.1979 über die Raumplanung (Raumplanungsgesetz; SR 700 ) |
| SR | Systematische Rechtssammlung |
| StromVG | Bundesgesetz vom 23.3.2007 über die Stromversorgung (Stromversorgungsgesetz; SR 734.7 ) |
| USG | Bundesgesetz vom 7.10.1983 über den Umweltschutz (Umweltschutzgesetz; SR 814.01 ) |
| UVEK | Eidgenössisches Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation |
| Ziff. | Ziffer |
Bundesrecht
Betriebsbewilligung für das Reservekraftwerk Birr im Winter 2022/23. Kurzbericht der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates
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