Betriebsbewilligung für das Reservekraftwerk Birr im Winter 2022/23 Bericht der GPK-N vom 28. Februar 2025 Stellungnahme des Bundesrates
Betriebsbewilligung für das Reservekraftwerk Birr im Winter 2022/23 Bericht der GPK-N vom 28. Februar 2025 Stellungnahme des Bundesrates
vom 21. Mai 2025
Sehr geehrter Herr Kommissionspräsident Sehr geehrte Damen und Herren
Zum Bericht der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrats vom 28. Februar 2025 ¹ betreffend die Betriebsbewilligung für das Reservekraftwerk Birr im Winter 2022/23 nehmen wir nach Artikel 158 des Parlamentsgesetzes nachfolgend Stellung.
Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Kommissionspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.
| 21. Mai 2025 | Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Karin Keller-Sutter Der Bundeskanzler: Viktor Rossi |
Stellungnahme
¹ BBl 2025 1060
1 Ausgangslage
Die Geschäftsprüfungskommission des Nationalrats (GPK-N) hat dem Bundesrat mit einem Schreiben vom 28. Februar 2025 einen Bericht ² betreffend die Betriebsbewilligung für das Reservekraftwerk Birr im Winter 2022/23 zugestellt. In dem Bericht wird der Bundesrat ersucht, den Erwägungen der Kommission Rechnung zu tragen und zu den darin enthaltenen Empfehlungen bis zum 30. Mai 2025 Stellung zu nehmen.
² BBl 2025 1060
2 Stellungnahme des Bundesrates
| Empfehlung 1 Definition einer schweren Energiemangellage Der Bundesrat wird ersucht, den Begriff «unmittelbar drohende oder bereits bestehende schwere Mangellage» im Energiebereich in der Gesetzgebung klar zu definieren. Die Definition muss messbare Kriterien enthalten. |
Bei einer Strommangellage sind das Angebot und die Nachfrage aufgrund eingeschränkter Produktions-, Übertragungs- oder Import-Kapazitäten während mehrerer Tage, Wochen oder Monate nicht mehr im Gleichgewicht. Eine uneingeschränkte und ununterbrochene Stromversorgung kann für einen Grossteil der Endverbraucherinnen und Endverbraucher nicht mehr sichergestellt werden. Mithilfe von Strombewirtschaftungsmassnahmen wird angestrebt, während der Dauer der Mangellage den Ausgleich zwischen Produktion und Verbrauch sicherzustellen. Dadurch sollen Netzzusammenbrüche bzw. grossflächige Stromausfälle verhindert werden, die zu schwerwiegenden Auswirkungen für die Wirtschaft und die Gesellschaft führen würden.
Risikofaktoren für die Versorgungssicherheit der Schweiz sind u. a. der Füllstand der Schweizer Speicherseen, die Importkapazität, die Verfügbarkeit der Kernkraftwerke in der Schweiz und in Frankreich, die Verfügbarkeit von Gas in Europa sowie die meteorologischen Bedingungen. Die Risikofaktoren können bei unvorhergesehenen Ereignissen einzeln oder in Kombination auftreten. Eine Kombination von ungünstigen Extremereignissen ist zwar sehr unwahrscheinlich, kann aber nie ganz ausgeschlossen werden. Die Versorgungslage kann sich plötzlich und sehr schnell verschlechtern. In anderen Fällen kann sich eine Knappheitssituation mit einiger Vorlaufzeit abzeichnen.
Die Unmittelbarkeit einer drohenden schweren Mangellage ist insbesondere daraufhin zu beurteilen, bis zu welchem Zeitpunkt noch Massnahmen getroffen werden können, um den Eintritt der Mangellage abzuwenden. Es ist daher erforderlich, die Versorgungssituation vor dem möglichen Eintritt der schweren Mangellage zu beurteilen, damit wirksame Massnahmen zur Abwendung oder Bewältigung getroffen werden können. Dies betrifft sowohl Interventionsmassnahmen zur Lenkung des Verbrauchs wie auch des Angebots. Insbesondere für die Bereitstellung von zusätzlichen Produktionskapazitäten ist eine erhebliche Vorlaufzeit erforderlich.
Die Beurteilung der Versorgungslage zur Auslösung von Interventionsmassnahmen erfordert deshalb einen gewissen Ermessensspielraum, der nicht durch vordefinierte Fristen festgelegt werden kann. Interventionsmassnahmen müssen auch ergriffen werden können, wenn eine schwere Mangellage innerhalb weniger Monate einzutreten droht und ihr Eintritt nicht verhindert oder die Mangellage nicht bewältigt werden kann, falls die Massnahmen zu einem späteren Zeitpunkt ergriffen werden. Eine gewisse zeitliche Nähe der schweren Mangellage ist erforderlich. Die genaue Anzahl der Tage, Wochen oder Monate bis zum möglichen Eintritt einer schweren Mangellage kann aber nicht pauschal bestimmt werden. Ausgeschlossen ist das Ergreifen von Massnahmen auf Vorrat, ohne dass im erwähnten Zeitraum ernsthaft mit einer Versorgungskrise zu rechnen ist.
Es gibt keine messbaren Kriterien, um den genauen Zeitpunkt für die Auslösung von Interventionsmassnahmen zur Abwendung einer unmittelbar drohenden schweren Mangellage zu definieren. Man kommt bei der Lagebeurteilung nicht um Prognosen herum, die zwangsläufig mit gewissen Unsicherheiten behaftet sind. Aus Sicht des Bundesrats besteht insofern kein Bedarf nach einer gesetzlichen Präzisierung. Eine solche Präzisierung würde die Handlungsfähigkeit des Bundesrats in Krisensituationen zu stark einschränken und unter gewissen Umständen eine angemessene und rechtzeitige Reaktion auf eine drohende schwere Mangellage möglicherweise behindern oder im schlimmsten Fall sogar verunmöglichen. Die Versorgungslage muss bei einem drohenden Engpass von Fall zu Fall aufgrund der zu diesem Zeitpunkt verfügbaren Informationen beurteilt werden.
Der Bundesrat wird sich im Rahmen der Botschaft zur Änderung des Landesversorgungsgesetzes (LVG), die dem Parlament voraussichtlich bis Ende 2025 unterbreitet wird, noch zu den Grundsätzen der möglichen Intervention (Art. 31) äussern.
| Empfehlung 2 Informationsgrundlagen für Beschlüsse der Bundesbehörden zur Bewältigung von Energiemangellagen Der Bundesrat wird ersucht, dafür zu sorgen, dass die Beschlüsse zur Bewältigung von Energiemangellagen - insbesondere über den Betrieb von Reservekraftwerken - immer detaillierte aktuelle Informationen über die Versorgungslage und die Versorgungsrisiken in der Schweiz enthalten. |
Das Bundesverwaltungsgericht (BVGer) kam in seinem Urteil vom 19. Februar 2024 zum Schluss, dass die auf den Winter 2022/23 befristete Betriebsbewilligung für das Reservekraftwerk in Birr rechtswidrig war. Nach Ansicht des Gerichts vermochte das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) nicht genügend darzulegen, auf welcher Grundlage der Bundesrat in Bezug auf die Stromversorgung im Winter 2022/23 von einer schweren Mangellage ausgegangen war. Nach Ansicht des Gerichts hat der Bundesrat in Bezug auf die Entscheidung, wirtschaftliche Interventionsmassnahmen zu ergreifen, einen weiten Entscheidungsspielraum. Wenn der Bundesrat aufzeigen kann, dass der gesamte voraussichtliche Stromverbrauch in der Schweiz mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit nicht mehr durch entsprechende Produktion im In- und Ausland gedeckt werden kann, ist das bereits ein gewichtiges Indiz für eine schwere Mangellage. Das Bundesamt für Energie (BFE) konnte anhand einer Studie vom 2. November 2022 aufzeigen, dass Knappheitssituationen im Winter 2022/23 «nicht unwahrscheinlich» waren. ³ Das Gericht bemängelt jedoch, dass die Studie keine Rückschlüsse darauf zulasse, welcher Teil der Nachfrage nicht gedeckt werden konnte und ob die Stunden, während deren die Nachfrage nicht gedeckt werden konnte, blockweise oder vereinzelt auftraten. Es könne daher allein gestützt auf die Studie nicht beurteilt werden, ob eine allfällige nicht gedeckte Nachfrage - etwa im Rahmen der von der Swissgrid vorgehaltenen Regelleistung - ausgeglichen und somit die Wahrscheinlichkeit einer Beeinträchtigung der Stromversorgung entscheidend reduziert werden könnte. Im Weiteren habe das BFE nicht darlegen können, dass durch die möglichen Knappheitssituationen ein grosser volkswirtschaftlicher Schaden drohe. Die Studie mache keine Angaben zum Ausmass einer allfälligen Beeinträchtigung der Versorgung oder zur Schwere des volkswirtschaftlichen Schadens. Es müsse zudem aufgezeigt werden, dass es keine Alternative zu Reservekraftwerken gibt. Angesichts der erheblichen Umweltauswirkungen von Reservekraftwerken hätten nebst einer Erhöhung des Angebots auch Verbrauchsbeschränkungen geprüft werden müssen. Zwar gehe aus der Literatur hervor, dass der Bundesrat andere Massnahmen in Betracht gezogen habe, doch seien diese nicht transparent ausgewiesen worden, sodass das Gericht diese nicht überprüfen könne.
In seiner Begründung sagt das BVGer nicht, dass im Winter 2022/23 kein Risiko einer Mangellage bestand. Es sagt lediglich, dass es dieses hohe Risiko aus den vom UVEK gelieferten Unterlagen nicht habe herauslesen können. Es sei also zu wenig dokumentiert worden. Sollten demnach erneut potenzielle Energiemangellagen absehbar werden, würde das UVEK, wie vom BVGer gefordert, die Entscheidungsgrundlagen umfassender dokumentieren. Das Gericht rügt somit einzig die unzureichende Herleitung der Mangellage. Bei einer zukünftig drohenden Mangellage kann das UVEK bzw. das BFE die erforderlichen Informationen aufbereiten, damit der Bundesrat die Betriebsverordnung in Kraft setzen und das UVEK ausreichend begründete und rechtlich abgestützte Betriebsbewilligungen ausstellen kann.
Der Bundesrat ist mit der Empfehlung einverstanden: Die Beschlüsse zur Bewältigung von Energiemangellagen - insbesondere über den Betrieb von Reservekraftwerken - sollen immer detaillierte aktuelle Informationen über die Versorgungslage und die Versorgungsrisiken in der Schweiz enthalten. Die Grundlage dafür liefert insbesondere das Strommonitoring der Swissgrid zuhanden der Organisation der wirtschaftlichen Landesversorgung.
| Empfehlung 3 Schätzung der wirtschaftlichen Auswirkungen einer Mangellage Der Bundesrat wird ersucht, dafür zu sorgen, dass die Schätzungen der wirtschaftlichen Auswirkungen einer Strommangellage verfeinert und vervollständigt sowie auch regelmässig überprüft werden. |
Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz (BABS) führt regelmässig nationale Risikoanalysen zu Katastrophen und Notlagen in der Schweiz durch. Die Risikoberichte dienen als Grundlage für die Weiterentwicklung des Katastrophenschutzes und sind damit Bestandteil der umfassenden Sicherheitspolitik in der Schweiz. Im Risikobericht 2020 ⁴ wurde eine langandauernde Strommangellage im Winter als grösstes Risiko für die Schweiz identifiziert. Im beschriebenen Szenario wurde eine Stromunterversorgung von 30 Prozent während mehrerer Monate im Winter angenommen. Insgesamt rechnete das BABS dabei mit aggregierten Schäden von über 180 Milliarden Franken, was rund einen Viertel des schweizerischen Bruttoinlandsprodukts für ein ganzes Jahr ausmachen würde.
Das BABS arbeitet zurzeit an einer weiteren Aktualisierung der nationalen Risikoanalyse (inkl. Szenario Strommangellage), die voraussichtlich im kommenden Jahr publiziert wird. Im Rahmen der nationalen Strategie zum Schutz kritischer Infrastrukturen (SKI) hat der Bundesrat das BFE zudem beauftragt, periodisch die relevanten Risiken zu analysieren, die zu gravierenden Störungen der Stromversorgung führen können. Dabei werden ebenfalls volkswirtschaftliche Schäden aufgrund von Stromausfällen und -Mangellagen quantifiziert. Im aktuellen Bericht «Resilienz der Stromversorgung in der Schweiz - Schutz kritischer Infrastrukturen (SKI)» des BFE vom 3. Juni 2024, aktualisiert am 14. März 2025, wird bei einer Stromunterversorgung von 30 Prozent in der Schweiz während einer Dauer von 8 bis 12 Wochen von einem Schadensausmass von über 150 Milliarden Franken ausgegangen. Bisher sind sämtliche Analysen des BABS und des BFE zum Schluss gekommen, dass eine schwere Strommangellage mit einem enormen volkswirtschaftlichen Schadensausmass in Milliardenhöhe verbunden ist. Bereits bei einem Stromausfall von rund drei Tagen in mehreren Kantonen sind Schäden von rund 3,3 Milliarden Franken zu erwarten.
Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit ist von zentraler Bedeutung. Entsprechend müssten im konkreten Fall einer drohenden schweren Mangellage die wirtschaftlichen Auswirkungen der Mangellage und der Interventionsmassnahmen im Rahmen einer Verhältnismässigkeitsprüfung abgeschätzt werden. Eine regelmässige Überprüfung dieser Auswirkungen ausserhalb der nationalen Risikoanalyse lehnt der Bundesrat jedoch ab, da diese nur im konkreten Fall sinnvoll eingeschätzt werden können. Aus Sicht des Bundesrats ist aufgrund der bereits heute regelmässig durchgeführten nationalen Risikoanalysen des BABS und der periodisch durchzuführenden Resilienzüberprüfungen im Rahmen der nationalen SKI-Strategie das Anliegen der Verfeinerung, Vervollständigung und regelmässigen Überprüfung der Schätzungen der wirtschaftlichen Auswirkungen einer Strommangellage bereits erfüllt.
³ Studie zur kurzfristigen Strom-Adequacy Schweiz im Auftrag des Bundesamts für Energie - Winter 2022/2023 , abrufbar unter
www.new
s
.admin.ch
> Energie: Stromversorgungslage im Winter angespannt, aber nicht gravierend gefährdet.
⁴ Bericht zur nationalen Risikoanalyse , abrufbar unter
www.babs
.
admin.ch
> Nationale Risikoanalyse von Katastrophen und Notlagen.
Bundesrecht
Betriebsbewilligung für das Reservekraftwerk Birr im Winter 2022/23. Bericht der GPK-N vom 28. Februar 2025. Stellungnahme des Bundesrates
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