Botschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über die Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen (Allgemeinverbindlicherklärung von Mindestlöhnen, die unter kantonalen Mindestlöhnen liegen)
Botschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über die Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen (Allgemeinverbindlicherklärung von Mindestlöhnen, die unter kantonalen Mindestlöhnen liegen)
vom 13. Dezember 2024
Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren
Mit dieser Botschaft unterbreiten wir Ihnen den Entwurf einer Änderung des Bundesgesetzes ¹ über die Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen.
Gleichzeitig beantragen wir Ihnen, den folgenden parlamentarischen Vorstoss abzuschreiben:
| 2022 | M | 20.4738 | Sozialpartnerschaft vor umstrittenen Eingriffen schützen (S 14.6.2022, Ettlin Erich; N 14.12.2022) |
Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.
| 13. Dezember 2024 | Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Viola Amherd Der Bundeskanzler: Viktor Rossi |
Übersicht
Der Entwurf zur Änderung des Bundesgesetzes über die Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen (im Folgenden AVEG) setzt den Auftrag um, den das Parlament dem Bundesrat mit der Annahme der Motion Ettlin Erich 20.4738 erteilt hat.
Ausgangslage
Die Motion 20.4738 «Sozialpartnerschaft vor umstrittenen Eingriffen schützen» wurde von Ständerat Erich Ettlin am 18. Dezember 2020 eingereicht. Die eidgenössischen Räte haben sie am 14. Dezember 2022 angenommen und so den Bundesrat beauftragt, einen Entwurf für eine Änderung des AVEG vorzulegen, der vorsieht, dass die Bestimmungen eines allgemeinverbindlich erklärten Gesamtarbeitsvertrages (GAV) zu Mindestlohn, 13. Monatslohn und Ferienanspruch anderslautenden Bestimmungen der Kantone vorgehen. Heute darf ein GAV nur allgemeinverbindlich erklärt werden, wenn die Bestimmungen dem zwingenden Recht des Bundes und der Kantone nicht widersprechen.
Inhalt der Vorlage
Mit diesem Entwurf schlägt der Bundesrat vor, das AVEG dahingehend zu ändern, dass Bestimmungen von GAV allgemeinverbindlich erklärt werden können, die niedrigere Mindestlöhne vorsehen als jene, die in den kantonalen Gesetzen festgelegt sind. Die Vorlage betrifft nur den Mindestlohn, da die Kantone keine Kompetenz haben, Regelungen über Ferien oder den 13. Monatslohn zu erlassen.
Wie der Bundesrat in seiner Stellungnahme zur Motion sowie im Verlauf der parlamentarischen Beratung erläutert hat, lehnt er diese Vorlage ab. Seiner Meinung nach widerspricht eine solche Änderung mehreren Grundsätzen der Schweizer Rechtsordnung, wie der Kompetenzverteilung zwischen den Kantonen und dem Bund und dem Legalitätsprinzip, die in der Bundesverfassung verankert sind. Angesichts der auseinandergehenden Meinungen in der Vernehmlassung und der klaren Ablehnung der überwiegenden Mehrheit der Kantone, die ihre verfassungsmässige Kompetenz zur Festlegung von Mindestlöhnen als sozialpolitische Massnahmen betonen, behält der Bundesrat seine Position bei und schlägt dem Parlament vor, diesen Gesetzesentwurf nicht anzunehmen.
Botschaft
¹ BBl 2025 124
1 Ausgangslage
1.1 Handlungsbedarf und Ziele
Der Entwurf zur Änderung des Bundesgesetzes vom 28. September 1956 ² über die Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen (im Folgenden AVEG) setzt den Auftrag um, den das Parlament dem Bundesrat mit der Annahme der Motion Ettlin Erich 20.4738 erteilt hat.
Die Motion bezieht sich auf allgemeinverbindlich erklärte Gesamtarbeitsverträge (GAV). Eine Allgemeinverbindlicherklärung ist ein Beschluss der zuständigen Behörde des Bundes oder des Kantons, mit dem alle (oder einige) Bestimmungen eines GAV direkt und zwingend auf alle Arbeitgeber und Arbeitnehmenden eines Wirtschaftszweigs oder eines Berufs anwendbar gemacht werden, unabhängig davon ob sie am GAV beteiligt sind oder nicht. Das Verfahren für die Allgemeinverbindlicherklärung ist im AVEG geregelt.
Die Motion wurde am 14. Dezember 2022 von den eidgenössischen Räten angenommen. Sie beauftragt den Bundesrat, das AVEG zu ändern, damit die Bestimmungen eines allgemeinverbindlich erklärten GAV zu Mindestlohn, 13. Monatslohn und Ferienanspruch anderslautenden Bestimmungen der Kantone vorgehen. Heute darf ein GAV gemäss Artikel 2 Ziffer 4 AVEG nur allgemeinverbindlich erklärt werden, wenn die Bestimmungen dem zwingenden Recht des Bundes und der Kantone nicht widersprechen.
Die Einführung kantonaler Gesetze über Mindestlöhne, die den in einem GAV oder einem allgemeinverbindlich erklärten GAV festgelegten Mindestlöhnen vorgehen, ist der Grund für diese Motion. Der Motionär ist der Ansicht, dass diese kantonalen Gesetze die Sozialpartnerschaft gefährden. Heute (Stand: August 2024) haben fünf Kantone (NE, JU, GE, TI und BS) ein Mindestlohngesetz erlassen. Jedoch haben nur die Kantone Neuenburg und Genf vorgesehen, dass der kantonale Mindestlohn den in allgemeinverbindlich erklärten GAV vereinbarten Mindestlöhnen vorgeht, sofern er höher ist als diese. Die Kantone Jura, Tessin und Basel-Stadt haben ihrerseits in den gesetzlichen Grundlagen den in den allgemein verbindlich erklärten GAV festgelegten Löhnen den Vorrang gewährt.
In seiner Stellungnahme zur Motion sowie in den parlamentarischen Beratungen hat der Bundesrat die Ablehnung der Motion vorgeschlagen, weil die kantonalen Gesetze zum Mindestlohn demokratisch legitimiert sind und durch die Kantone im Rahmen ihrer Kompetenz im Bereich der Sozialpolitik erlassen wurden, was auch vom Bundesgericht bestätigt wurde ³ .
² SR 221.215.311
³ BGE 143 I 403 E. 7.5.3
1.2 Geprüfte Alternativen und gewählte Lösung
Die Motion betrifft die Bestimmungen eines allgemein verbindlich erklärten GAV zu Mindestlohn, 13. Monatslohn und Ferienanspruch. Doch die Kantone haben keine Kompetenz, Regelungen zum 13. Monatslohn oder zu den Ferien zu erlassen, da die Gesetzgebung auf dem Gebiet des Zivilrechts gemäss Artikel 122 Absatz 1 der Bundesverfassung (BV) ⁴ Sache des Bundes ist. Der Bundesrat hat daher verschiedene Umsetzungsvorschläge geprüft, die ausschliesslich den Mindestlohn betreffen.
Es sei darauf hingewiesen, dass das Ziel der Motion mehreren Prinzipien der Rechtsordnung widerspricht, die in der Bundesverfassung verankert sind. Den in den allgemeinverbindlich erklärten GAV festgelegten Mindestlöhnen den Vorrang gegenüber den kantonalen Gesetzen in diesem Bereich zu geben, ist aus Sicht der Aufteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Kantonen problematisch. Laut Bundesgericht verfügen die Kantone nämlich über die Kompetenz, im arbeitsrechtlichen Bereich sozialpolitische Massnahmen zu treffen, die zur öffentlich-rechtlichen Schutzgesetzgebung gehören. ⁵ Zudem ist das Ziel der Motion auch aus Sicht der Normenhierarchie problematisch, da ein Beschluss über die Allgemeinverbindlicherklärung einem kantonalen Gesetz untergeordnet ist (vgl. Ziff. 2.3 und 7.1).
1.2.1 Geprüfte Alternativen
Änderung von Artikel 2 Ziffer 4 AVEG
Für die Umsetzung der Motion Ettlin Erich 20.4738 hat der Bundesrat die Möglichkeit geprüft, das AVEG zu ändern und Artikel 2 Ziffer 4 AVEG zu ergänzen, damit künftig Bestimmungen von GAV, die niedrigere als die in den kantonalen Gesetzen festgelegten Mindestlöhne vorsehen, allgemeinverbindlich erklärt werden können. Nach der Allgemeinverbindlicherklärung sind diese Bestimmungen für alle Arbeitgeber und Arbeitnehmenden eines Wirtschaftszweigs oder eines Berufs anwendbar.
Es ist zu präzisieren, dass das AVEG die Allgemeinverbindlicherklärung von GAV sowohl auf dem Gebiet mehrerer Kantone als auch auf dem gesamten Gebiet oder einem Teil des Gebiets eines einzigen Kantons regelt. Bezieht sich der Geltungsbereich der Allgemeinverbindlicherklärung nur auf das Gebiet eines Kantons oder auf einen Teil desselben, so ist gemäss Artikel 7 Absatz 2 AVEC der Kanton dafür zuständig. Die zuständigen kantonalen Behörden sind folglich von dieser Gesetzesänderung auch betroffen.
Die geprüfte Alternative liegt innerhalb der Schranken des Geltungsbereichs des AVEG, das die Voraussetzungen und die Wirkungen der Allgemeinverbindlicherklärung regelt. Folglich beschränkt sie sich auf die Regelung der Allgemeinverbindlicherklärung der GAV-Bestimmungen, die von den kantonalen Mindestlohnbestimmungen abweichen. Der Bundesrat möchte klarstellen, dass mit der Beschränkung auf die Regelung der Allgemeinverbindlicherklärung der Geltungsbereich des AVEG respektiert wird, dass damit aber das Ziel der Motion nicht vollumfänglich erreicht werden kann, da ein Vorrang der in einem allgemeinverbindlich erklärten GAV festgelegten Mindestlöhne gegenüber dem kantonalen Recht im AVEG nicht geregelt werden kann. Wenn ein allgemeinverbindlicher GAV und ein kantonales Gesetz auf denselben Sachverhalt anwendbar sein könnten, könnte daraus ein Normenkonflikt resultieren. In einem solchen Fall müsste grundsätzlich ein Zivilgericht entscheiden.
Da Artikel 2 Ziffer 4 AVEG in Verbindung mit Artikel 358 des Obligationenrechts (OR) ⁶ steht, hat der Bundesrat geprüft, ob eine Revision der OR-Bestimmung notwendig ist. Artikel 358 OR sieht vor, dass das zwingende Recht des Bundes und der Kantone den Bestimmungen des GAV vorgeht, sofern diese keine für die Arbeitnehmenden günstigeren Regeln vorsehen. Diese Bestimmung verweist somit auf die Hierarchie der Normen im Arbeitsrecht. Artikel 358 OR beschränkt sich nicht auf die allgemeinverbindlich erklärten GAV, sondern betrifft die GAV im Allgemeinen. Er erscheint undenkbar, in diesem Artikel eine Ausnahme einzuführen, die den Vorrang der in GAV festgelegten Mindestlöhne vorsieht, ohne diese Ausnahme auf allgemeinverbindlich erklärte GAV zu beschränken, da es dann ausreichen würde, einen beliebigen GAV abzuschliessen, um vom kantonalen Mindestlohn abzuweichen, was die kantonalen Gesetze völlig aushöhlen würde. Die Aufnahme einer Ausnahme in Artikel 358 OR, selbst wenn sie auf allgemeinverbindliche GAV beschränkt ist, würde die durch diese Bestimmung geschaffene Normenhierarchie grundlegend in Frage stellen. Aus all diesen Gründen und da sich die Motion klar auf die allgemeinverbindlich erklärten GAV konzentriert und auf das AVEG abzielt, muss dieses Gesetz als Spezialgesetz angepasst werden und nicht das OR.
Änderung der Bundesverfassung
Weil die Umsetzung der Motion mehreren in der Bundesverfassung verankerten Grundsätzen widersprechen würde, hat der Bundesrat die Möglichkeit geprüft, eine Verfassungsänderung vorzuschlagen.
Die geprüfte Alternative würde darin bestehen, Artikel 110 BV zu ändern und eine Möglichkeit zur Abweichung vom kantonalen Recht einzuführen, die eine Einschränkung der kantonalen Kompetenzen für die Sozialpolitik im Bereich des Arbeitsrechts zur Folge hätte. Dann würde direkt in der Bundesverfassung festgehalten, dass die Bestimmungen eines allgemeinverbindlich erklärten GAV in Bezug auf den Mindestlohn Vorrang vor kantonalem Recht hätten. Dies würde es grundsätzlich erlauben, die Motion im Einklang mit der schweizerischen Rechtsordnung umzusetzen.
Diese Verfassungsänderung würde eine Änderung von Artikel 358 OR zur Folge haben, um dort eine Ausnahme einzuführen, die den Vorrang der in allgemeinverbindlich erklärten GAV festgelegten Mindestlöhne gegenüber dem kantonalen Recht vorsieht. Diese Ausnahme würde sich jedoch einerseits auf die allgemeinverbindlich erklärten GAV und andererseits auf die Bestimmungen über Mindestlöhne beschränken.
Artikel 2 Ziffer 4 AVEG sieht vor, dass der Gesamtarbeitsvertrag die Rechtsgleichheit nicht verletzen und, unter Vorbehalt von Artikel 323quater (aktuell Art. 358) OR, dem zwingenden Recht des Bundes und der Kantone nicht widersprechen darf. Eine Änderung des AVEG wäre demnach auch bei dieser Alternative erforderlich. Denn damit die Allgemeinverbindlicherklärung eines GAV, der vom kantonalen Recht abweicht, möglich ist, muss das AVEG dies erlauben. Artikel 2 Ziffer 4 AVEG müsste daher geändert und dahingehend ergänzt werden, dass es möglich wird, Bestimmungen von GAV, die niedrigere Mindestlöhne als die in den kantonalen Gesetzen festgelegten vorsehen, für allgemeinverbindlich zu erklären.
Der Bundesrat hat diese Alternative nicht weiterverfolgt. Er stellt die Bedeutung der Sozialpartnerschaft und der allgemeinverbindlich erklärten GAV für den Schweizer Arbeitsmarkt keineswegs in Frage. Er ist jedoch der Ansicht, dass die Einführung einer Befugnis der Sozialpartner, vom kantonalen Recht abzuweichen, in der Bundesverfassung sehr weit geht. Eine solche Änderung hätte weitreichende und grundlegende Auswirkungen auf die Kompetenzen der Kantone und der Sozialpartner im Bereich der Sozial-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik. Es ist auch darauf hinzuweisen, dass nur die kantonalen Gesetze, die den Vorrang ihres kantonalen Mindestlohnes vorsehen, wenn dieser höher ist, das heisst die Gesetze der Kantone Genf und Neuenburg, von der Umsetzung der Motion Ettlin Erich 20.4738 betroffen sind. Zudem können gemäss dem erwähnten Bundesgerichtsentscheid Kantone nur dann kantonale Mindestlöhne festlegen, wenn sie existenzsichernd sind, das heisst wenn sie sich auf einem relativ niedrigen Niveau bewegen, das nahe am Existenzminimum liegt, das sich aus den Sozialversicherungs- oder Sozialhilfesystemen ergibt. ⁷ Da die meisten in allgemeinverbindlich erklärten GAV festgelegten Mindestlöhne über den kantonalen Mindestlöhnen liegen, sind von der Umsetzung dieser Motion vor allem die Löhne von wenig oder nicht qualifizierten Arbeitnehmenden in Tieflohnbranchen betroffen. Zudem ist eine Änderung von Artikel 358 OR, die bei dieser Alternative unvermeidbar wäre, nicht zu befürworten, da die durch diese Bestimmung geschaffene Normenhierarchie grundlegend geändert würde (vgl. Erläuterungen zur Alternative «Änderung von Artikel 2 Ziffer 4 AVEG»).
Abschreibung der Motion wegen rechtlicher Unmöglichkeit
Der Bundesrat hat auch die Möglichkeit geprüft, die Motion gemäss Artikel 122 Absatz 3 Buchstabe a des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 2002 ⁸ mittels eines besonderen Berichts abzuschreiben, mit der Begründung, dass ihre Umsetzung rechtlich nicht möglich ist.
Der Vorschlag, die Motion abzuschreiben, wäre damit begründet, dass ihr Ziel mehreren Grundprinzipien der Rechtsordnung, die in der Bundesverfassung verankert sind, widerspricht (vgl. Ziff. 2.3 und 7.1).
Die Problematik im Zusammenhang mit dem Ziel der Motion wurde vom Parlament im Laufe seiner Beratung geprüft. Das Parlament nahm die Motion trotz der Bedenken des Bundesrates an. Folglich hat der Bundesrat entschieden, dem Parlament einen Entwurf vorzulegen, obwohl er der Gesetzesänderung ablehnend gegenübersteht.
⁶ SR 220
⁷ BGE 143 I 403 E. 5.4.3
⁸ SR 171.10
1.2.2 Gewählte Lösung
Aus den oben erläuterten Gründen und angesichts der auseinandergehenden Meinungen in der Vernehmlassung und der Ablehnung der Vorlage durch die grosse Mehrheit der Kantone, die ihre verfassungsmässige Kompetenz zum Festlegen von Mindestlöhnen betonen (vgl. Ziff. 2) hat der Bundesrat beschlossen, einen Entwurf für die Änderung von Artikel 2 AVEG zu erarbeiten. Er schlägt dem Parlament jedoch vor, diese Vorlage aufgrund der zahlreichen erwähnten Probleme, insbesondere hinsichtlich der Aufteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Kantonen, nicht anzunehmen (vgl. Ziff. 7.1).
⁴ SR 101
⁵ BGE 143 I 403 E. 7.5.3
1.3 Verhältnis zur Legislaturplanung
Die Vorlage ist in der Botschaft vom 24. Januar 2024 ⁹ zur Legislaturplanung 2023-2027 angekündigt.
⁹ BBl 2024 525
1.4 Erledigung parlamentarischer Vorstösse
Die Vorlage ermöglicht die Erledigung der Motion Ettlin Erich 20.4738 «Sozialpartnerschaft vor umstrittenen Eingriffen schützen».
2 Vorverfahren, insbesondere Vernehmlassungsverfahren
2.1 Vernehmlassungsvorlage
Die Vernehmlassungsvorlage enthält eine Änderung von Artikel 2 Ziffer 4 AVEG, mit der es möglich wird, Bestimmungen in GAV, die niedrigere als die in den kantonalen Gesetzen festgelegten Mindestlöhne vorsehen, für allgemeinverbindlich zu erklären (vgl. Ziff. 1.2.2).
Es ist darauf hinzuweisen, dass die Vernehmlassungsvorlage die Umsetzung der Motion Ettlin Erich 20.4738 und der Motion WAK-N 21.3599 umfasste. Die Vorlage wurde im Nachgang zur Vernehmlassung auseinandergenommen und die beiden Motionen getrennt behandelt (vgl. Ziff. 2.3). Die Motion WAK-N 21.3599, die am 1. Juni 2022 angenommen wurde, beauftragt den Bundesrat, die notwendigen Massnahmen zu ergreifen, damit die paritätischen Kommissionen (PK) der allgemeinverbindlich erklärten GAV ihre Jahresrechnungen veröffentlichen müssen. Die Motion verlangt zudem, dass die PK Rechenschaft über den Zweck der im Fondskapital zur Verfügung stehenden Mittel und deren Verwendung ablegen. Schliesslich verlangt sie, dass die Aufsichtsbehörde der PK, das Staatssekretariat für Wirtschaft, die Eidgenössische Finanzkontrolle oder andere Sachverständige mit der Finanzprüfung beauftragen kann. Die Vernehmlassungsvorlage enthält eine Änderung von Artikel 5 AVEG, die ein Recht auf Einsicht in die Jahresrechnungen der PK betreffend die Beiträge über die Vollzugskosten der GAV vorsieht.
2.2 Zusammenfassung der Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens
Die Vernehmlassung fand vom 24. Januar bis 1. Mai 2024 statt. Die Kantone, die in der Bundesversammlung vertretenen politischen Parteien, die Dachverbände der Wirtschaft sowie weitere Organisationen wurde eingeladen, Stellung zu nehmen. Insgesamt sind 105 Stellungnahmen eingegangen. Der vollständige Bericht zu den Ergebnissen dieser Vernehmlassung kann im Internet eingesehen werden. 1⁰
Nur ein Kanton (OW) befürwortet die vorgeschlagene Gesetzesänderung, ist sich allerdings des weitreichenden Eingriffs der Vorlage in die Demokratie und den Föderalismus bewusst. Nahezu alle Kantone (25) lehnen die Vorlage ab, mit dem Hauptargument, dass diese gegen mehrere Grundsätze der Schweizer Rechtsordnung verstösst, wie die Kompetenzverteilung zwischen den Kantonen und dem Bund und die Normenhierarchie. Zudem äussern 5 Kantone Zweifel an der Anwendbarkeit der Vorlage und betonen das Risiko von Rechtsunsicherheiten.
Die Stellungnahmen der politischen Parteien lassen sich in zwei Gruppen einteilen. Die FDP und die SVP befürworten die Umsetzung der Motion, damit die in den GAV festgelegten Mindestlöhne Vorrang gegenüber dem kantonalen Recht in diesem Bereich erhalten. Die FDP weist darauf hin, dass sie die Vernehmlassungsvorlage unterstützt, während sich die SVP nicht präzise zur Vorlage äussert. Die Grünen und die SP lehnen die vorgeschlagene Gesetzesänderung aus staatspolitischen sowie sozialpolitischen Überlegungen ab.
Der Schweizerische Städteverband spricht sich gegen die Vorlage aus. Er teilt die Ansicht des Bundesrates und findet, dass die vorgeschlagene Gesetzesänderung sozialpolitisch problematisch ist und einen unzulässigen Eingriff in die Souveränität der Kantone und Gemeinden bildet.
Von den Dachverbänden der Wirtschaft und den Vertretern anderer interessierter Kreise begrüssen 48, mehrheitlich Arbeitgeberverbände (darunter der Schweizerische Gewerbeverband und der Schweizerische Arbeitgeberverband), die Vorlage ganz oder teilweise. 17 andere, die insbesondere die Interessen der Arbeitnehmenden vertreten (darunter der Schweizerische Gewerkschaftsbund, der Kaufmännische Verband Schweiz und Travail Suisse), lehnen die Vorlage strikt ab. Neun haben sich nicht konkret zur Vernehmlassungsvorlage geäussert.
Unter den befürwortenden Teilnehmenden sind 45 der Ansicht, dass die Vorlage sowie die Forderungen der Motion nicht gegen die Grundprinzipien der schweizerischen Rechtsordnung verstossen und stützen sich dabei auf ein Rechtsgutachten, das Gastro Suisse bei Prof. Isabelle Häner in Auftrag gegeben hat 1¹ . Sie sind jedoch der Ansicht, dass die Gesetzesvorlage keinen ausdrücklichen Schluss zulässt, welche Bestimmung in Bezug auf den Mindestlohn (jene des allgemeinverbindlich erklärten GAV oder jene des kantonalen Gesetzes) Anwendungsvorrang hat. Daher empfehlen sie, (durch einen neuen Art. 1 Abs. 4 AVEG) den Vorrang der in den allgemeinverbindlich erklärten GAV festgelegten Mindestlöhne gegenüber anderslautenden Bestimmungen der Kantone ausdrücklich im Gesetz zu ergänzen, wie dies der Motionstext verlangt. 44 Teilnehmende fordern ausserdem, auf den in der Vorlage (in Art. 2 Ziff. 4 VE-AVEG) enthaltenen Begriff «zwingend» bei der Formulierung «Bestimmungen über Mindestlöhne können allgemeinverbindlich erklärt werden, auch wenn sie zwingendem Recht der Kantone widersprechen» zu verzichten. Sie machen geltend, dass dieser Begriff impliziert, dass der Bundesgesetzgeber zwischen nicht zwingendem und zwingendem kantonalen Recht unterscheidet, und dass kantonales öffentliches Recht immer zwingend ist.
Zudem äussern einige Teilnehmende den Wunsch, dass die vorgeschlagene Änderung auch für die Gemeinden gelten soll. Andere insistieren auf der Erwähnung des 13. Monatslohnes und des Ferienanspruchs gemäss Motionstext. Einige Teilnehmende empfehlen weiter, dass die vorgeschlagene Änderung auch für bestehende oder gleichwertige nicht allgemeinverbindlich erklärte GAV gelten soll, da diesen de facto die gleiche Bedeutung wie den allgemeinverbindlich erklärten GAV zukomme.
Die Hauptargumente der Teilnehmenden, die sich gegen die Vorlage aussprechen, sind der verfassungswidrige Eingriff in die Kantonsautonomie, die Verletzung des Legalitätsprinzips und der Kompetenzverteilung zwischen den Kantonen und dem Bund, die Untergrabung der gesetzlichen kantonalen Mindestlöhne und der direkten Demokratie, das Risiko von Rechtsunsicherheiten sowie die mangelnde Praxistauglichkeit der vorgesehenen Änderung.
Unter den Teilnehmenden, welche die Vorlage ablehnen, haben sich mehrere für eine Alternative ausgesprochen. Sechs Teilnehmende unterstützen eine Verfassungsänderung und fünf weitere die Abschreibung der Motion Ettlin Erich 20.4738.
Zehn Teilnehmende haben sich schliesslich zur Umsetzung der Motionen Ettlin Erich 20.4738 und WAK-N 21.3599 in einer gemeinsamen Vorlage geäussert. Diese Teilnehmenden fordern die Trennung und eine unabhängige Behandlung der beiden Motionen mit der Begründung, dass sie im Parlament nie gemeinsam behandelt wurden und dass sie sich auf unterschiedliche inhaltliche Anliegen beziehen. Zudem verweisen sie darauf, dass die beiden Themen möglicherweise in unterschiedlichem Rhythmus beraten werden müssen. Schliesslich bestünde ihrer Ansicht nach die Gefahr, dass, wenn das Parlament den Umsetzungsvorschlag der einen Motion ablehnen würde, das Gesamtpaket abgelehnt würde.
1⁰ Der Ergebnisbericht der Vernehmlassung ist abrufbar unter:
www.admin.ch
> Bundesrecht > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2024 > WBF.
1¹ Häner, Isabelle (2024): Rechtsgutachten über die Änderung des Bundesgesetzes über die Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen. Kann abgerufen werden unter:
www.bratschi.ch > Know-How.
2.3 Würdigung der Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens
Getrennte Behandlung der Motionen Ettlin Erich 20.4738 und WAK-N 21.3599
Der Bundesrat hat die Argumente der Teilnehmenden, welche eine getrennte Behandlung der beiden Motionen fordern, berücksichtigt. Im Nachgang zur Vernehmlassung wurde die Vorlage auseinandergenommen und die Umsetzung jeder Motion wird separat behandelt.
Vorrang der in den allgemeinverbindlich erklärten GAV festgelegten Löhne gegenüber dem kantonalen Recht
Zahlreiche Teilnehmende kritisieren die mangelnde Klarheit der Formulierung der Vernehmlassungsvorlage. Sie sind der Ansicht, dass die Vorlage im Gegensatz zum Wortlaut der Motion 20.4738 die Frage des Anwendungsvorrangs nicht ausdrücklich regelt. Daher fordern sie, dass der Vorrang der in den allgemeinverbindlich erklärten GAV festgelegten Löhne gegenüber dem kantonalen Recht ausdrücklich im Gesetz festgehalten wird.
Die Vorlage beschränkt sich effektiv auf die Regelung der Allgemeinverbindlicherklärung der Bestimmungen in GAV, die von den kantonalen Bestimmungen in Bezug auf den Mindestlohn abweichen, ohne die Frage des Verhältnisses zum kantonalen Recht zu regeln. Das AVEG stützt sich auf Artikel 110 Absatz 1 Buchstabe d BV und betrifft ausschliesslich die Allgemeinverbindlicherklärung von GAV (Art. 1 AVEG). Das AVEG regelt die Voraussetzungen und die Wirkungen der Allgemeinverbindlicherklärung. Es enthält hingegen keine Regeln zur Anwendbarkeit gewisser Bestimmungen eines GAV. Die Fragen zum Vollzug des GAV liegen in der Zuständigkeit der Vertragsparteien, und bei einem Streitfall hat das Zivilgericht zu entscheiden. Die Vorlage liegt somit innerhalb der Schranken des Geltungsbereichs des AVEG.
Es ist daher nicht möglich, die Vorlage durch eine Vorrangregel zu ergänzen. Diese würde ausserhalb des Geltungsbereichs des AVEG liegen und wäre nicht verfassungskonform.
Änderung der Bundesverfassung
Gewisse Teilnehmende unterstützen die Variante, die eine Änderung der Bundesverfassung vorsieht, um die Motion auf gesetzeskonforme Art und Weise umzusetzen. Der Bundesrat hat diese Alternative geprüft, hat sie jedoch nicht weiterverfolgt. Trotz der abweichenden Ansicht von mehreren Teilnehmenden behält der Bundesrat seine Position bei und verweist auf die unter Ziffer 1.2.1 angegebene Begründung.
Abschreibung der Motion
Einige Teilnehmende sind der Ansicht, dass die Motion abgeschrieben werden sollte, da eine verfassungskonforme Umsetzung nicht möglich ist. Der Bundesrat hat diese Alternative geprüft, hat sie aber aus den unter Ziffer 1.2.1 erwähnten Gründen nicht weiterverfolgt. Angesichts der auseinandergehenden Meinungen in der Vernehmlassung und der bedeutenden Zahl der Teilnehmenden, welche die Umsetzung der Motion befürworten, erachtet er die Abschreibung der Motion nicht als angemessen. Der Bundesrat steht jedoch der Vorlage weiterhin ablehnend gegenüber.
Anwendung der Änderung auf die Gemeinden
Verschiedene Teilnehmende gehen davon aus, dass der im Vorentwurf verwendete Ausdruck «kantonales Recht» das Gemeinderecht einschliesst. Andere wiederum geben an, dass sie wünschen, dass die geänderte Bestimmung auch für die Gemeinden gilt, und schlagen vor, sie in diesem Sinne zu ergänzen.
Die Kompetenzen der Gemeinden sind in jedem Fall unter Einhaltung des kantonalen Rechts auszuüben. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass es nicht nötig ist, das Gemeinderecht in der Vorlage ausdrücklich aufzuführen, denn die Erwähnung des kantonalen Rechts umfasst auch die durch das Gemeinderecht festgelegten Mindestlöhne. Die Botschaft wird unter Ziffer 4.2 in diesem Sinne ergänzt.
Anwendung der vorgeschlagenen Änderung auf bestehende oder gleichwertige nicht allgemeinverbindlich erklärte GAV
Eine kleine Minderheit der Teilnehmenden empfiehlt, dass die Vorlage ergänzt wird, sodass sie auch für bestehende oder gleichwertige nicht allgemeinverbindlich erklärte GAV gilt, da diesen ihnen zufolge de facto die gleiche Bedeutung wie den allgemeinverbindlich erklärten GAV zukommt.
Es ist darauf hinzuweisen, dass die Motion ausdrücklich und ausschliesslich auf die allgemeinverbindlich erklärten GAV abzielt. Ausserdem liegt die vorgeschlagene Änderung in den Schranken des Geltungsbereichs des AVEG, das die Voraussetzungen und die Wirkungen der Allgemeinverbindlicherklärung regelt; die vorgeschlagene Lösung ermöglicht die Allgemeinverbindlicherklärung von Bestimmungen über Mindestlöhne.
Ein GAV ist ein privatrechtlicher Vertrag. Es handelt sich um vertragliche Regeln, die zwischen privaten Akteuren verhandelt und abgeschlossen werden. Es erfolgt kein staatlicher Eingriff, geschweige denn ein Gesetzgebungsverfahren. Artikel 358 OR enthält den Grundsatz des Vorrangs des zwingenden Rechts des Bundes und der Kantone gegenüber den Bestimmungen des GAV. Aufgrund von Artikel 358 OR ist es nicht möglich, einer vertraglichen Bestimmung den Vorrang gegenüber dem zwingenden Recht zu geben. Die Artikel 19 Absatz 2 und 20 Absatz 1 OR illustrieren diesen Grundsatz ebenfalls, indem sie die Nichtigkeit von Bestimmungen vorsehen, die gegen «unabänderliche Vorschriften» verstossen oder «widerrechtlich» sind. Auch allgemeinverbindlich erklärte GAV sind privatrechtliche Verträge. Die Vorlage in der vom Bundesrat vorgeschlagenen Form ist unter diesem Gesichtspunkt bereits problematisch, und die Änderung soll auf das absolut Notwendige beschränkt werden.
Aus diesen Gründen ist eine Anwendung auf bestehende oder gleichwertige nicht allgemeinverbindlich erklärte GAV nicht denkbar.
Erwähnung des 13. Monatslohnes und des Ferienanspruchs
Eine Minderheit der Teilnehmenden befürchtet, dass die Kantone auch in anderen Bereichen als dem Mindestlohn öffentlich-rechtliche Bestimmungen erlassen könnten, die den Bestimmungen der GAV vorgehen, und beantragt daher, dass die Motion vollumfänglich (d. h. auch bezüglich 13. Monatslohn und Ferienanspruch) und nicht nur bezüglich der Mindestlöhne umgesetzt wird.
Artikel 122 Absatz 1 BV erteilt dem Bund die Gesetzgebungskompetenz auf dem Gebiet des Zivilrechts und besonders in Fragen im Zusammenhang mit dem Obligationenrecht. Auf dem Gebiet des Zivilrechts hat der Bundesgesetzgeber eine umfassende Kompetenz und kann abschliessend Recht setzen. Die kantonalen Gesetzgeber können auf diesem Gebiet nur Vorschriften erlassen, wenn sie durch eine in einem Bundesgesetz enthaltene Delegation dazu ermächtigt sind. ¹2 Die Ansprüche auf Ferien sowie auf den 13. Monatslohn sind im OR geregelt (Art. 322 und Art. 329 a- 329 d OR) und dort ist keine Kompetenzdelegation vorgesehen. Folglich sind die Kantone nicht befugt, in diesen Bereichen Vorschriften zu erlassen. Der Bundesrat hält es daher für unangemessen, die Ansprüche auf Ferien und den 13. Monatslohn in der Vorlage zu erwähnen.
Streichung des Begriffs «zwingend»
Mehrere Teilnehmende empfehlen, auf den in der Vorlage (Art. 2 Ziff. 4 VE-AVEG) enthaltenen Begriff «zwingend» bei der Formulierung «Bestimmungen über Mindestlöhne können allgemeinverbindlich erklärt werden, auch wenn sie zwingendem Recht der Kantone widersprechen» zu verzichten, da dieser Begriff ihrer Ansicht nach impliziert, dass der Bundesgesetzgeber zwischen zwingendem und nicht zwingendem kantonalem Recht unterscheidet. Sie machen ferner geltend, kantonales öffentliches Recht sei immer zwingend.
Artikel 358 OR sieht vor, dass das zwingende Recht des Bundes und der Kantone den Bestimmungen des GAV vorgeht. Es handelt sich um den Ausdruck der Normenhierarchie im Arbeitsrecht. Artikel 2 Ziffer 4 AVEG übernimmt diese Hierarchie indem er festlegt, dass GAV, um allgemeinverbindlich erklärt werden zu können, nichts enthalten dürfen, was zwingenden Bestimmungen des Bundes- oder Kantonsrechts widerspricht. Diese Bestimmungen verwenden beide den Begriff «zwingend». Der Bundesrat hat daher beschlossen, die Formulierung «zwingendes Recht der Kantone» in der Vorlage beizubehalten, um dieselbe Terminologie wie im OR und dem geltenden AVEG zu verwenden und keinen Auslegungsspielraum zuzulassen.
Keine Verletzung der Grundprinzipien der schweizerischen Rechtsordnung
Der Standpunkt des Bundesrates, wonach die Vorlage gegen mehrere Grundsätze der schweizerischen Rechtsordnung verstösst, wird von zahlreichen Arbeitgeberverbänden bestritten. Diese stützen sich auf ein Rechtsgutachten, das Gastro Suisse bei Prof. Isabelle Häner in Auftrag gegeben hat.
Diese Arbeitgeberverbände bringen vor, dass aufgrund von Artikel 110 BV der Bund befugt ist, selbst im Bereich der sozialpolitischen Massnahmen Vorschriften zu erlassen, welche das Existenzminimum garantieren sollen, einschliesslich eines Mindestlohns. Diese Verbände stützen sich auf das Rechtsgutachten von Prof. Isabelle Häner, wonach der Bund mit der vorgeschlagenen Änderung des AVEG einen sozialpolitischen Mindestlohn erlassen würde. Falls der Bund einen Mindestlohn als sozialpolitische Massnahme erlassen würde, würden die Kantone im Prinzip die Möglichkeit zur Gesetzgebung auf dem gleichen Gebiet verlieren, denn das angestrebte Schutzziel ist dasselbe. Prof. Isabelle Häner führt an, dass die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen nicht verletzt würde, da der Bund von seiner Kompetenz gemäss Artikel 110 BV Gebrauch machen würde. Da es sich um die Änderung eines Bundesgesetzes handelt, würde zudem das Prinzip der Normenhierarchie eingehalten.
Der Bundesrat ist der Ansicht, dass die Motion Ettlin Erich 20.4738 und die Revision des AVEG, die diese umsetzen soll, als solche nicht die Einführung eines Mindestlohns auf Bundesebene beinhaltet. Die Vorlage hat nämlich zum Ziel, die Allgemeinverbindlicherklärung von Bestimmungen über Mindestlöhne in GAV zu ermöglichen, die vom kantonalen Recht abweichen. Daher führt der Bund mit dieser Vorlage keinen Mindestlohn ein. Es sind vielmehr die Sozialpartner, die in den GAV kollektiv verhandelte Mindestlöhne festlegen, wobei sie den regionalen und branchenspezifischen wirtschaftlichen Umständen Rechnung tragen. Es ist nicht Sache der Sozialpartner, Massnahmen zur Armutsbekämpfung zu treffen, und es wäre schwierig vorstellbar, dass die Einführung eines in einem GAV festgelegten Mindestlohns eine vom Bund erlassene sozialpolitische Massnahmen wäre, wie die betroffenen Verbände dies vorbringen. Der Bundesrat hält es nicht für nötig, im Rahmen dieser Botschaft die Frage der Kompetenz des Bundes zum Erlass von Bestimmungen über die Festlegung eines Mindestlohns (namentlich als sozialpolitische Massnahme) detaillierter zu klären, da die Vorlage diese Frage nicht behandelt.
Bezüglich der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen und des Grundsatzes der Normenhierarchie wird auf das Unterkapitel über die Verfassungsmässigkeit (Ziff. 7.1) verwiesen
¹2 Aubert, Jean-François / Mahon, Pascal (2003): Petit commentaire de la Constitution fédérale de la Confédération suisse du 18 avril 1999 . Zürich/Basel/Genf: Schulthess. Art. 122 §3, S. 978.
3 Rechtsvergleich, insbesondere mit dem europäischen Recht
Die Vorlage weist keinen besonderen Bezug zum Recht der Europäischen Union auf.
4 Grundzüge der Vorlage
4.1 Die beantragte Neuregelung
Zur Umsetzung der Motion Ettlin Erich 20.4738 wird Artikel 2 AVEG dahingehend ergänzt, dass es möglich ist, Bestimmungen in GAV für allgemeinverbindlich zu erklären, die niedrigere als die in den kantonalen Gesetzen festgelegten Mindestlöhne vorsehen.
4.2 Umsetzung
Künftig könnten die zuständigen Behörden Bestimmungen in GAV, die Mindestlöhne festlegen, für allgemeinverbindlich erklären, auch wenn sie einem kantonalen Mindestlohn widersprechen. Die Möglichkeit einer solchen Allgemeinverbindlicherklärung ist insofern problematisch, als in einigen Kantonen die kantonalen Gesetze vorsehen, dass die kantonalen Mindestlöhne Vorrang haben, wenn sie höher sind. Folglich würden zwei parallele und widersprüchliche Regelungen bestehen. In einem solchen Fall müsste grundsätzlich ein Zivilgericht über die Frage des Vorrangs entscheiden. Das Unterkapitel zur Verfassungsmässigkeit (Ziff. 7.1) erläutert im Detail, weshalb die Vorlage problematisch ist.
5 Erläuterungen zum geänderten Artikel
Artikel 2 Ziffer 4
Artikel 2 Ziffer 4 des geltenden AVEG regelt die Bedingungen für die Allgemeinverbindlicherklärung eines GAV und sieht insbesondere vor, dass ein GAV nur dann für allgemeinverbindlich erklärt werden darf, wenn er dem zwingenden Recht des Bundes und der Kantone nicht widerspricht.
Die Vorlage ergänzt diese Bestimmung mit einer Ausnahme von dieser Regel. Diese Ergänzung erlaubt es, Bestimmungen von GAV für allgemeinverbindlich zu erklären, die in Bezug auf den Mindestlohn von zwingenden Bestimmungen des kantonalen Rechts abweichen. Mit anderen Worten könnten die Vertragsparteien eines GAV ein Gesuch um Allgemeinverbindlicherklärung einer Bestimmung einreichen, die einen Mindestlohn vorsieht, der niedriger ist als jener in einem kantonalen Gesetz. Die zuständige Behörde auf Kantons- oder Bundesebene könnte diesen Mindestlohn grundsätzlich für allgemeinverbindlich erklären. Vorbehalten bleibt die Prüfung der weiteren zu erfüllenden Voraussetzungen für die Allgemeinverbindlicherklärung. Zu beachten ist, dass der Ausdruck «zwingendes Recht der Kantone» auch die im kommunalen Recht festgelegten Mindestlöhne umfasst.
Die geltende Bestimmung enthält einen Verweis auf Artikel 323quater OR, der heute Artikel 358 OR entspricht. Dieser wird angepasst, um auf die aktuell geltende Bestimmung des OR zu verweisen.
6 Auswirkungen
6.1 Auswirkungen auf den Bund
Die Vorlage hat keine Auswirkungen auf den Bund, weder in finanzieller noch in personeller Hinsicht.
6.2 Auswirkungen auf die Kantone
Die Vorlage verstösst gegen die Kompetenzverteilung zwischen dem Bund und den Kantonen im Bereich des Arbeitsrechts, indem sie die Allgemeinverbindlicherklärung von Bestimmungen in GAV ermöglicht, die Mindestlöhne vorsehen, die im Widerspruch zu den kantonalen Mindestlöhnen stehen, welche die Kantone als sozialpolitische Massnahme festlegen können ¹3 .
Hingegen hat die Vorlage keine Auswirkungen auf die Finanzen oder den Personalbedarf der Kantone.
¹3 BGE 143 I 403 E. 7.5.3
6.3 Auswirkungen auf die Volkswirtschaft
Die Vorlage könnte wirtschaftliche Auswirkungen auf die Arbeitnehmenden haben, die in einem Kanton tätig sind, in dem ein kantonales Gesetz über den Mindestlohn vorsieht, dass der höhere kantonale Mindestlohn Vorrang vor den in den GAV festgelegten Mindestlöhnen hat (Stand August 2024: NE und GE). Diese Arbeitnehmenden könnten eine Lohneinbusse erfahren, insbesondere wenig oder unqualifizierte Arbeitnehmende in Tieflohnbranchen, wie dem Gastgewerbe, dem Reinigungsgewerbe und dem Coiffeurgewerbe, wo die in den GAV vorgesehenen Mindestlöhne in der Regel niedriger sind als die in den kantonalen Gesetzen festgelegten Mindestlöhne.
7 Rechtliche Aspekte
7.1 Verfassungsmässigkeit
Die Kompetenzverteilung zwischen dem Bund und den Kantonen im Bereich des Arbeitsrechts, in dessen Rahmen die Frage des Mindestlohns fällt, stützt sich für das öffentliche Recht auf Artikel 110 BV und für das Privatrecht auf Artikel 122 BV. ¹4 Die Massnahmen, die einen Mindestlohn vorschreiben, der ein vorrangig sozialpolitisches Ziel verfolgt, gehören zur öffentlich-rechtlichen Schutzgesetzgebung, welche die Kantone grundsätzlich trotz der Bestimmungen des Bundeszivilrechts über die Arbeit sowie ergänzend zu den Massnahmen des öffentlichen Rechts des Bundes, das im Arbeitsgesetz vom 13. März 1964 ¹5 und den dazugehörigen Verordnungen verankert ist, verabschieden dürfen. ¹6 Solche Massnahmen dienen der Armutsbekämpfung und verstossen daher nicht gegen die Wirtschaftsfreiheit. ¹7 Die Umsetzung der Motion Ettlin Erich 20.4738, die den Bestimmungen von allgemeinverbindlich erklärten GAV über Mindestlöhne den Vorrang gegenüber dem kantonalen Recht erteilen will, verletzt die in der Bundesverfassung verankerte Kompetenzverteilung zwischen den Kantonen und dem Bund.
Die Umsetzung der Motion verstösst auch gegen den Verfassungsgrundsatz der Legalität, der in Artikel 5 Absatz 1 BV verankert ist ¹8 . Daraus geht der Grundsatz der Normenhierarchie hervor, laut dem ein Erlass von niedrigerem Rang nicht gegen Erlasse von höherem Rang verstossen darf ¹9 . Der Beschluss über die Allgemeinverbindlicherklärung wird vom Bundesgericht als ein Sondererlass qualifiziert, der es den Beteiligten erlaubt, wenn die erforderlichen gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind, das von ihnen selbst geschaffene Berufsrecht auf alle Angehörigen einer Berufskategorie oder eines Wirtschaftszweigs auszudehnen 2⁰ . Der Beschluss über die Allgemeinverbindlicherklärung ist ein Verwaltungsakt, 2¹ der aus dem GAV kein Gesetz macht, da sein Inhalt nicht von einem Gesetzgeber festgelegt wird. Ein GAV ist ein zwischen privaten Akteuren abgeschlossener Vertrag und seine Allgemeinverbindlicherklärung ändert nichts an seiner privatrechtlichen Vertragsnatur. Obwohl der Beschluss über die Allgemeinverbindlicherklärung an sich ein öffentlich-rechtlicher Verwaltungsakt ist, werden die Bestimmungen des GAV dadurch nicht in öffentlich-rechtliche Vorschriften umgewandelt. Der Inhalt des GAV bleibt privatrechtlicher Natur und die Verwaltungsbehörden sind nicht ermächtigt, die Einhaltung der Bestimmungen zu kontrollieren und gegen deren Verletzung vorzugehen 2² . Ein Beschluss über die Allgemeinverbindlicherklärung ist somit von einem niedrigeren Rang als ein kantonales Gesetz. Die Umsetzung der Motion verstösst somit gegen den Grundsatz der Normenhierarchie.
¹4 BGE 143 I 403 E. 7.2
¹5 SR 822.11
¹6 BGE 143 I 403 E. 7.5.3
¹7 BGE 143 I 403 E. 5
¹8 BGE 136 I 241 E. 2.5; Martenet, Vincent / Dubey, Jacques (2021): Constitution fédérale , Commentaire romand. Basel: Helbing. Préambule - art. 80 Cst., S. 206.
¹9 Aubert, Jean-François / Mahon, Pascal (2003): Petit commentaire de la Constitution fédérale de la Confédération suisse du 18 avril 1999 . Zürich/Basel/Genf: Schulthess. S. 41 f.
2⁰ BGE 98 II 205 E. 1
2¹ BGE 128 II 13 E. 1d
2² BGE 98 II 205 E. 1
7.2 Vereinbarkeit mit den internationalen Verpflichtungen der Schweiz
Die Vorlage zur Änderung des AVEG ist mit den internationalen Verpflichtungen der Schweiz und insbesondere mit dem Recht der Europäischen Union vereinbar.
7.3 Erlassform
Gemäss Artikel 164 BV sind alle wichtigen rechtsetzenden Bestimmungen in der Form eines Bundesgesetzes zu erlassen. Die Vorlage hält diese Regel ein.
7.4 Unterstellung unter die Ausgabenbremse
Mit der Vorlage werden weder neue Subventionsbestimmungen noch neue Verpflichtungskredite oder Zahlungsrahmen beschlossen. Die Vorlage ist somit nicht der Ausgabenbremse (Art. 159 Abs. 3 Bst. b BV) unterstellt.
7.5 Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und des Prinzips der fiskalischen Äquivalenz
Das Subsidiaritätsprinzip und das Prinzip der fiskalischen Äquivalenz sind von der Vorlage nicht betroffen.
7.6 Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen
Die Vorlage beinhaltet keine Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen.
7.7 Datenschutz
Die Vorlage hat keine Auswirkungen auf die spezifischen Normen zum Datenschutz.
Bundesrecht
Botschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über die Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen (Allgemeinverbindlicherklärung von Mindestlöhnen, die unter kantonalen Mindestlöhnen liegen)
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